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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Riemann, Hugo: Gignómvnon und Geyovos beim Musikhören: ein aristoxenischer Beitrag zur modernen Musikästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0527

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Riemann, Γιγνόμβνον und Feyovos beim Musikhören

521

architektonische Formgebung Verzicht leistet, aber doch die assoziativen
Wirkungen mit künstlerischer Absicht benutzt, daher jedenfalls doch in
gewissem Grade wirklich auf die Auffassung des γιγνόμενον als solchen
rechnet, aber — was sehr wichtig — ohne dessen Verwandlung in das
yeyovos auszuschließen. Daß dies möglich und keineswegs ein Wider-
spruch ist, muß nun festgestellt werden.
Wenn wirklich alle Musik ursprünglich und in erster Linie ausdrückend,
spontane Äußerung des Empfindens ist, Emanation des nach Mitteilung
verlangenden Willens, so beruht doch dieser Ausdruckswert der
einzelnen musikalischen Gesten zweifellos eben in der
g e s c h e h e n d e n Tonbewegung, also für den Hörer wirklich in dem als
solches hingenommenen und subjektivierten γίγνο'/zevov. Daß dieser Aus-
druck Objekt der Betrachtung der produzierenden Phantasie werden kann
und durch Wiederholung, Nachahmung und Umbildung zu kunstmäßigem
Gestalten wird, das als solches neue Kunstwerte erzeugt, stellt aber ganz
gewiß diese ursprüngliche Bedeutung in keiner Weise in Frage. Die ton-
malerische absichtliche Verwendung der Tonbewegungsformen zur Er-
weckung bestimmter Assoziationen scheint zwar Übertragung zu sein, nicht
etwas spontan Ausdrückendes, sondern etwas Reflektiertes, das sich somit
von der ursprünglichen Ausdrucksbedeutung entfernte. Aber ist denn z. B.
das musikalische Blättersäuseln tatsächlich eine Nachbildung des wirklichen
Geräusches und nicht vielmehr nur ein Abbild der Empfindungen, welche
eine solche Naturbetrachtung auslöst? Das eine Naturstimmung fest-
haltende Tonbild wird doch erst dann ästhetisch anfechtbar, wenn sich
empfindlich bemerkbar macht, daß der Komponist über die Wiedergabe
einer solchen Stimmung hinausgeht und versucht, die Naturnachahmung zu
steigern, sobald er naturalistisch wird; das kann aber erst dann
gesagt werden, wenn die rein musikalische Gestaltung als solche nicht
mehr direkt verständlich und motiviert erscheint, sondern die besondere
poetische Absicht zur Erklärung der musikalischen Entwicklung heran-
gezogen werden muß, mit anderen Worten, wenn rein musikalisch formale
Beziehungen unerkennbar werden und das neue Folgende immer wieder für
sich nach seiner direkten Ausdrucksbedeutung gewertet werden soll.
Eine radikale Durchführung der Negierung der formalen Prinzipien ist
aber schlechterdings sogar unmöglich; es kann und wird stets bei bloßen
Ansätzen, Anläufen, Versuchen dazu sein Bewenden haben, da auch der
ärgste moderne Prinzipienreiter nicht ganz ohne motivische Konsequenz,
harmonische Logik und rhythmische Ordnung etwas überhaupt Anhörbares
zustande bringen kann und wohl oder übel Konzessionen machen oder
Kompromisse schließen muß. Je hartnäckiger er aber sein Ideal zu ver-
wirklichen strebt, desto mehr wird er dem groteskesten Mißverstehen seiner
Absichten ausgesetzt sein. Wenn auch im Laufe der Zeiten die Technik der
Programmkomposition starke Wandlungen durchgemacht hat und der Schatz
an Formeln für die Kenntlichmachung der Absichten des Komponisten —
als Frucht der illustrierenden Tonmalerei der oben erwähnten Art — stetig
 
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