jugendlich vermählen sich Jahrhunderte, daß alles Zeit-
maß der Stilkritik versagt.
Von den Krippen nebenan zeigen Wegweiser zur
Individualkunst. Aus den winterlichen Bastelstuben ist
mancher den Weg zu ihr geschritten. Aber die Kultur-
demokratie eines altfreien Volks ahnenstolzer Bauern,
schollentreuen Adels, bergfroher Bürger, heimatverwach-
sener Gehilfen hat weder Kunst noch Menschen je in
Rangklassen geteilt: Sind die gotischen Fastentücher
mit ihnen werden in der Fastenzeit die Altäre ver-
hängt — „Volks“kunst oder „hohe“ Kunst? Wo liegt
die Grenze im Holzskulpturensaal? Was trennt die
Glas-, die Zinn-, Kupfer-, Bronze-, vor allen die gran-
diose Schmiedeeisensammlung im ersten Stocke des
Volkskunstmuseums von den kunstgewerblichen Be-
ständen des nachbarlichen Ferdinandeum? In Tirol
weitet sich Volkskunst von plebs auf populus.
Am augenfälligsten wird diese kunstqualitative und
soziale Parität in der verblüffend reichen und sein-
charakteristisch ausgewählten Mobiliarsammlung der
beiden Obergeschosse des Volkskunstmuseums. Fürs
Mittelalter mit seiner gleich allmählichen Mobilisierung
von Kasten und Sitz in Burg, Hof und Stadthaus sind
vornehmlich die Dachtruhen bezeichnend — übrigens
weitverbreitete Derelikte der Völkerwanderungszeit
dann die freilich erst im 15. Jahrhundert und als lokale
Spezialität — im Pustertal — auftretenden „Ganter“,
eintürige schildhausartige Satteldachschränke von roma-
nischem Habitus. Datierung nach normalen Stilmerk-
malen ist beim Tiroler Möbel meist fast so unmöglich wie
bei den Hausfleißerzeugnissen, obwohl es frühzeitig
Handwerksprodukt geworden ist. Neue Formen wurden
freilich - und oft erstaunlich rasch — aufgenommen,
von fremden Gesellen, auf eigener Wanderschaft, von
Vorlagen (solche klebte der Schreiner wohl auch gleich
aufs Holz; das Museum enthält sehr interessante Möbel
mit Holzschnittfüllungen): aber das Bisherige wird
um des Neuen willen nicht verworfen. So zieht sich die
Gotik bis ins 17., ins 18. Jahrhundert fort, das
Renaissanceornament lebt ins Biedermeier, der Rokoko-
schnörkel in unsere Tage hinein, nicht n a c h -, sondern
n o c h empfunden.
Zu Ansätzen von „Klassenstilen“ kommt es eigent-
lich erst in der Barockzeit durch die Steigerung von
Komfort- und Luxusbedarf in Edelsitz und Stadt. Aber
sie äußern sich meist nur in Materialverfeinerung —
Nußholz gegenüber Zirbenholz — und ihrer technisch-
künstlerischen Auswirkung, nicht in grundgeschmack-
licher Divergenz. Den „Herrischen“ bleibt das Dorf
immer noch näher als Wien und Versailles und, gleich-
berechtigt, holt sich der Bauer aus Schloß und Bürger-
wohnung, was ihm an neuer Kunstart zusagt. Nachbai-
schaft hatte schon in der Renaissancezeit viel stärker
eingewirkt als Klassenunterschiede: der Augsburg-
Nürnberger Kulturkreis auf das Unterland, die Ost-
schweiz auf das Oberland, Italien auf Südtirol und übei
den Brenner weg bis Innsbruck. Das ergab in Kreuzung
mit stamm- und milieumäßigen volksseelischen Sonder-
heiten die Talstile. Bei ihrer Ergründung muß man sich
vor billigen volkspsychologischen Parallelismen hüten.
Erklärt der heiter bajuvarischc Sinn des Unterlandes, der
ernstere alemannische des Oberlandes zur Not die bunt-
bemalten Zillertaler, die dunklen, wuchtigen Oetztaler
Möbel, so hinken alle volkspsychologischen Vergleiche
etwa der prunkvollen Intarsienmalerei der Alpbacher
oder des Farbenpomps der Paznauner. Es bleibt nichts
übrig, als in Zufällen ausschlaggebende Komponenten
solcher volkskunstgeschichtlicher Lokalismen zu sehen.
Ein volkspsychologisches Moment aber, das man
nicht übersehen und nicht mißdeuten kann, reiht die Per-
len des neuen Innsbrucker Museums, seine zweiund-
zwanzig Stuben, zu einem Schatz von eminentestem
Wert. An sich sind sie, durch fünf Jahrhunderte rei-
chend, von größter technologischer, kultur- und kunst-
geschichtlicher Bedeutung: sie zeigen, wie das alte ger-
manische Holzhaus, als horizontal gefügte Blockwand-
stube ins Steinhaus gestellt — zur Wärmedichtung in
schuttgefüllten Hohlraum eingekapselt, später wohl auch,
zu sicherer Druckverteilung, mit Balken eingewölbt —
allmählich zur vertikalen Bretter- und Leistenvertäfe-
lung, Zimmermanns- zu Schreinerarbeit, Konstruktivität
zu Dekor, körperliche zu seelischer Nutzmäßigkeit wird:
aus dem alten deutschen Blockhaus erwächst — das
volkspsychologische Bindeglied der zweiundzwanzig
Stuben deutsche Gemütlichkeit.
Daß diese mikrokosmischen Hochburgen germani-
schen Gemüts zumeist aus Deutsch-S ü d tirol stammen,
nimmt niemand Wunder: Deutsch-Südtirol, das Herz
Tirols, sein Kristallisationspunkt und Namensspender,
war seit je das weiß die Welt deutschesten Geistes.
Was den Unbewanderten Wunder nimmt, ist die Her-
kunftsinschrift einer dieser typisch deutschesten Stuben:
Ca 1 des im Nonstal. Das Val di Non ist ein
welsches Tal. Seine Siedlungen sind welsch gedrängt,
welsche Straßenfreudigkeit verschmilzt, entgegen deut-
schem Sonderungsdrang, Wohnstätten und Umwelt.
Der Winter ist im Nonstal kaum rauher als in der Ebene
jenseits der Berner Klause. Unter welscher Sonne, in
welschen Dörfern bergen welsche Häuser deutsche Stu-
ben voll deutschen Gemüts. Was das Tiroler Volks-
kunstmuseum da aufzeigt, ist auf südlichstem Vorposten
ein Denkmal deutscher Kulturkraft. Allerdings ein Grab-
denkmal — dermalen.
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maß der Stilkritik versagt.
Von den Krippen nebenan zeigen Wegweiser zur
Individualkunst. Aus den winterlichen Bastelstuben ist
mancher den Weg zu ihr geschritten. Aber die Kultur-
demokratie eines altfreien Volks ahnenstolzer Bauern,
schollentreuen Adels, bergfroher Bürger, heimatverwach-
sener Gehilfen hat weder Kunst noch Menschen je in
Rangklassen geteilt: Sind die gotischen Fastentücher
mit ihnen werden in der Fastenzeit die Altäre ver-
hängt — „Volks“kunst oder „hohe“ Kunst? Wo liegt
die Grenze im Holzskulpturensaal? Was trennt die
Glas-, die Zinn-, Kupfer-, Bronze-, vor allen die gran-
diose Schmiedeeisensammlung im ersten Stocke des
Volkskunstmuseums von den kunstgewerblichen Be-
ständen des nachbarlichen Ferdinandeum? In Tirol
weitet sich Volkskunst von plebs auf populus.
Am augenfälligsten wird diese kunstqualitative und
soziale Parität in der verblüffend reichen und sein-
charakteristisch ausgewählten Mobiliarsammlung der
beiden Obergeschosse des Volkskunstmuseums. Fürs
Mittelalter mit seiner gleich allmählichen Mobilisierung
von Kasten und Sitz in Burg, Hof und Stadthaus sind
vornehmlich die Dachtruhen bezeichnend — übrigens
weitverbreitete Derelikte der Völkerwanderungszeit
dann die freilich erst im 15. Jahrhundert und als lokale
Spezialität — im Pustertal — auftretenden „Ganter“,
eintürige schildhausartige Satteldachschränke von roma-
nischem Habitus. Datierung nach normalen Stilmerk-
malen ist beim Tiroler Möbel meist fast so unmöglich wie
bei den Hausfleißerzeugnissen, obwohl es frühzeitig
Handwerksprodukt geworden ist. Neue Formen wurden
freilich - und oft erstaunlich rasch — aufgenommen,
von fremden Gesellen, auf eigener Wanderschaft, von
Vorlagen (solche klebte der Schreiner wohl auch gleich
aufs Holz; das Museum enthält sehr interessante Möbel
mit Holzschnittfüllungen): aber das Bisherige wird
um des Neuen willen nicht verworfen. So zieht sich die
Gotik bis ins 17., ins 18. Jahrhundert fort, das
Renaissanceornament lebt ins Biedermeier, der Rokoko-
schnörkel in unsere Tage hinein, nicht n a c h -, sondern
n o c h empfunden.
Zu Ansätzen von „Klassenstilen“ kommt es eigent-
lich erst in der Barockzeit durch die Steigerung von
Komfort- und Luxusbedarf in Edelsitz und Stadt. Aber
sie äußern sich meist nur in Materialverfeinerung —
Nußholz gegenüber Zirbenholz — und ihrer technisch-
künstlerischen Auswirkung, nicht in grundgeschmack-
licher Divergenz. Den „Herrischen“ bleibt das Dorf
immer noch näher als Wien und Versailles und, gleich-
berechtigt, holt sich der Bauer aus Schloß und Bürger-
wohnung, was ihm an neuer Kunstart zusagt. Nachbai-
schaft hatte schon in der Renaissancezeit viel stärker
eingewirkt als Klassenunterschiede: der Augsburg-
Nürnberger Kulturkreis auf das Unterland, die Ost-
schweiz auf das Oberland, Italien auf Südtirol und übei
den Brenner weg bis Innsbruck. Das ergab in Kreuzung
mit stamm- und milieumäßigen volksseelischen Sonder-
heiten die Talstile. Bei ihrer Ergründung muß man sich
vor billigen volkspsychologischen Parallelismen hüten.
Erklärt der heiter bajuvarischc Sinn des Unterlandes, der
ernstere alemannische des Oberlandes zur Not die bunt-
bemalten Zillertaler, die dunklen, wuchtigen Oetztaler
Möbel, so hinken alle volkspsychologischen Vergleiche
etwa der prunkvollen Intarsienmalerei der Alpbacher
oder des Farbenpomps der Paznauner. Es bleibt nichts
übrig, als in Zufällen ausschlaggebende Komponenten
solcher volkskunstgeschichtlicher Lokalismen zu sehen.
Ein volkspsychologisches Moment aber, das man
nicht übersehen und nicht mißdeuten kann, reiht die Per-
len des neuen Innsbrucker Museums, seine zweiund-
zwanzig Stuben, zu einem Schatz von eminentestem
Wert. An sich sind sie, durch fünf Jahrhunderte rei-
chend, von größter technologischer, kultur- und kunst-
geschichtlicher Bedeutung: sie zeigen, wie das alte ger-
manische Holzhaus, als horizontal gefügte Blockwand-
stube ins Steinhaus gestellt — zur Wärmedichtung in
schuttgefüllten Hohlraum eingekapselt, später wohl auch,
zu sicherer Druckverteilung, mit Balken eingewölbt —
allmählich zur vertikalen Bretter- und Leistenvertäfe-
lung, Zimmermanns- zu Schreinerarbeit, Konstruktivität
zu Dekor, körperliche zu seelischer Nutzmäßigkeit wird:
aus dem alten deutschen Blockhaus erwächst — das
volkspsychologische Bindeglied der zweiundzwanzig
Stuben deutsche Gemütlichkeit.
Daß diese mikrokosmischen Hochburgen germani-
schen Gemüts zumeist aus Deutsch-S ü d tirol stammen,
nimmt niemand Wunder: Deutsch-Südtirol, das Herz
Tirols, sein Kristallisationspunkt und Namensspender,
war seit je das weiß die Welt deutschesten Geistes.
Was den Unbewanderten Wunder nimmt, ist die Her-
kunftsinschrift einer dieser typisch deutschesten Stuben:
Ca 1 des im Nonstal. Das Val di Non ist ein
welsches Tal. Seine Siedlungen sind welsch gedrängt,
welsche Straßenfreudigkeit verschmilzt, entgegen deut-
schem Sonderungsdrang, Wohnstätten und Umwelt.
Der Winter ist im Nonstal kaum rauher als in der Ebene
jenseits der Berner Klause. Unter welscher Sonne, in
welschen Dörfern bergen welsche Häuser deutsche Stu-
ben voll deutschen Gemüts. Was das Tiroler Volks-
kunstmuseum da aufzeigt, ist auf südlichstem Vorposten
ein Denkmal deutscher Kulturkraft. Allerdings ein Grab-
denkmal — dermalen.
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