Herausgeber: iXdOlptl DORQifl
Tahrgang 1929
1-/2. Novemberheff
Dänifcße Kunff im j'üngften falben 7abt?t)undect
oon
Albert Dresdner
I n einem Briefe vom Jahre 1877 gab Julius Lange der
1 Besorgnis Ausdruck, daß die dänische Kunst auf der
1878 stattfindenden Weltausstellung in Paris eine Nieder-
lage erleiden könne.*) Diese Besorgnis hat sich im voll-
sten Maße verwirklicht. Allerdings war die überaus
scharfe Kritik, die man in Frankreich damals an der däni-
schen Malerei übte, nicht durchaus gerechtfertigt; es gab
in ihr mancherlei Feines und Zartes, das sich dem Ver-
ständnisse der Franzosen entzog. Aber die Vorstellung,
die man sich in Dänemark, nicht ohne Einwirkung des
Kritikers N. L. Höyen, von einer nationalen Kunst gebil-
det hatte, hatte es mit sich gebracht, daß man gegen Be-
fruchtung durch das Ausland sich selbstzufrieden zu-
rückhielt, und besonders mißtrauisch war man gegen den
Einfluß des Franzosen als eines (wie Julius Lange her-
vorhob) so wenig verwandten Volkes. Darüber war man
sachte in Provinzialismus hinabgeglitten; man war hin-
ter der Entwicklung der europäischen Malerei zurück-
geblieben; es mangelte der dänischen Kunst an Bewe-
gung, an Mut, an Initiative.
Die Pariser Niederlage wurde entscheidend und 1878
ein Wendejahr. Neue Bestrebungen brachen stürmisch
in das geruhsame Stilleben ein; ^bewegte Kampfjahre
folgten, in denen sich eine gründliche Umwertung der
künstlerischen Werte vollzog. Seitdem ist nun ein hal-
bes Jahrhundert verflossen, und in diesem Zeiträume ist
*) Briefe von Julius Lange, herausgegeben von Peter Köbke.
Deutsche Ausgabe, Straßburg 1903, S. 93 ff.
die dänische Kunst — ebenso wie die Literatur — euro-
päisch geworden. Sie hat sich nach allen Seiten geöff-
net; aus Paris hat sie sich immer wieder Anregungen
geholt, aber das Bedürfnis nach Stil und monumentaler
Form hat sie auch wieder nach dem Süden geführt, und
aus dem benachbarten Norwegen hat die aufregende Er-
scheinung Edvard Munchs herübergewirkt. Die Ent-
wicklung war reich und mannigfaltig, die Zahl der
Talente beträchtlich. Welches ist die Bilanz? Wie ist
gegenwärtig die Stellung, die Leistung, der Charakter
der dänischen Kunst? Das sind die Fragen, deren Be-
antwortung man in der umfassenden rückschauenden
Ausstellung suchte, die im Rahmen der die zweite Okto-
berhälfte füllenden großen dänischen „Kunsttagung“
(Det Danske Kunststaevnet) veranstaltet wurde. Sie
füllte zwanzig Säle, und es war bezeichnend, daß man
den verfügbaren Raum annähernd gleichmäßig auf Ver-
gangenheit und Gegenwart verteilt hatte; die Absicht
ging nicht sowohl auf eine geschichtliche Studien-
ausstellung als vielmehr dahin, die lebende Kunst auf
dem Flintergrunde einer Vergangenheit zu zeigen, die
doch wieder selbst noch vielfach in die Gegenwart hin-
eingreift. Das gab eine Ausstellung voll starker Kon-
traste, sehr ungleich in der Wirkung, aber reich an
Spannung: die Problematik der Entwicklung der euro-
päischen Kunst in den letzten fünfzig Jahren wurde an
der Kunst eines begabten und geistig bewegten Volkes
mit besonderer Schärfe erkennbar, und zugleich drängte
sich die Frage auf, in welcher Weise sich die dänische
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Tahrgang 1929
1-/2. Novemberheff
Dänifcße Kunff im j'üngften falben 7abt?t)undect
oon
Albert Dresdner
I n einem Briefe vom Jahre 1877 gab Julius Lange der
1 Besorgnis Ausdruck, daß die dänische Kunst auf der
1878 stattfindenden Weltausstellung in Paris eine Nieder-
lage erleiden könne.*) Diese Besorgnis hat sich im voll-
sten Maße verwirklicht. Allerdings war die überaus
scharfe Kritik, die man in Frankreich damals an der däni-
schen Malerei übte, nicht durchaus gerechtfertigt; es gab
in ihr mancherlei Feines und Zartes, das sich dem Ver-
ständnisse der Franzosen entzog. Aber die Vorstellung,
die man sich in Dänemark, nicht ohne Einwirkung des
Kritikers N. L. Höyen, von einer nationalen Kunst gebil-
det hatte, hatte es mit sich gebracht, daß man gegen Be-
fruchtung durch das Ausland sich selbstzufrieden zu-
rückhielt, und besonders mißtrauisch war man gegen den
Einfluß des Franzosen als eines (wie Julius Lange her-
vorhob) so wenig verwandten Volkes. Darüber war man
sachte in Provinzialismus hinabgeglitten; man war hin-
ter der Entwicklung der europäischen Malerei zurück-
geblieben; es mangelte der dänischen Kunst an Bewe-
gung, an Mut, an Initiative.
Die Pariser Niederlage wurde entscheidend und 1878
ein Wendejahr. Neue Bestrebungen brachen stürmisch
in das geruhsame Stilleben ein; ^bewegte Kampfjahre
folgten, in denen sich eine gründliche Umwertung der
künstlerischen Werte vollzog. Seitdem ist nun ein hal-
bes Jahrhundert verflossen, und in diesem Zeiträume ist
*) Briefe von Julius Lange, herausgegeben von Peter Köbke.
Deutsche Ausgabe, Straßburg 1903, S. 93 ff.
die dänische Kunst — ebenso wie die Literatur — euro-
päisch geworden. Sie hat sich nach allen Seiten geöff-
net; aus Paris hat sie sich immer wieder Anregungen
geholt, aber das Bedürfnis nach Stil und monumentaler
Form hat sie auch wieder nach dem Süden geführt, und
aus dem benachbarten Norwegen hat die aufregende Er-
scheinung Edvard Munchs herübergewirkt. Die Ent-
wicklung war reich und mannigfaltig, die Zahl der
Talente beträchtlich. Welches ist die Bilanz? Wie ist
gegenwärtig die Stellung, die Leistung, der Charakter
der dänischen Kunst? Das sind die Fragen, deren Be-
antwortung man in der umfassenden rückschauenden
Ausstellung suchte, die im Rahmen der die zweite Okto-
berhälfte füllenden großen dänischen „Kunsttagung“
(Det Danske Kunststaevnet) veranstaltet wurde. Sie
füllte zwanzig Säle, und es war bezeichnend, daß man
den verfügbaren Raum annähernd gleichmäßig auf Ver-
gangenheit und Gegenwart verteilt hatte; die Absicht
ging nicht sowohl auf eine geschichtliche Studien-
ausstellung als vielmehr dahin, die lebende Kunst auf
dem Flintergrunde einer Vergangenheit zu zeigen, die
doch wieder selbst noch vielfach in die Gegenwart hin-
eingreift. Das gab eine Ausstellung voll starker Kon-
traste, sehr ungleich in der Wirkung, aber reich an
Spannung: die Problematik der Entwicklung der euro-
päischen Kunst in den letzten fünfzig Jahren wurde an
der Kunst eines begabten und geistig bewegten Volkes
mit besonderer Schärfe erkennbar, und zugleich drängte
sich die Frage auf, in welcher Weise sich die dänische
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