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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 11./​12.1929/​30

DOI Heft:
1./2. Aprilheft
DOI Artikel:
Zahn, Leopold: Der Petersburger Klassizismus im XX. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.26238#0301

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Dcü Petees bürget? KtafßEtsmus tm XX. labrburidert

von

Leopold Bahn

I n die chinesische Mauer, die sein nordisch-orientaii-
sches Mammutreich umgürtete, schlug der große Zar
ein Fenster nach Europa: Petersburg. Durch diese ge-
waltsame Oeffnung drang der Europäismus ein, aber
seine volle Virulenz reichte nicht über die Uferland-
schaft der Newa hinaus und so blieb Petersburg die ein-
zige Pflanzstätte des westlichen Geistes, gegen den die
Moskauer Slawophilen immer wieder die mystischen

Kräfte des echten Russentums zur Abwehr aufriefen.

*

Eine so künstliche, unorganische, jeglicher Natur

schicksalhafte Rolle ist ausgespielt. Das neue Rußland,
das sich nicht mehr als Zögling Europas fühlt, sondern
magister mundi sein will, wählte die ältere Metropole,
das Lebenszentrum echten Russentums, zu seiner Lehr-
kanzel. Aber das letzte Wort Petersburgs, bevor sein
kaiserlicher Glanz erlosch, war ein Bekenntnis zu jenem
Klassizismus, der für diese Stadt immer den Inbegriff

europäischer Kultur bedeutete.

*

Der Petersburger Klassizismus war eine all-
gemeine, die verschiedenen Gebiete des künstlerischen,

Georg Kirsta, Komposition mit drei Figuren. Oel, 192S

und Tradition zum Trotz emporgezüchtete Willens-
schöpfung wie Petersburg mußte im europäischen
Klassizismus eine wesensverwandte Erscheinung er-
kennen. Der Klassizismus war für Petersburg mehr als
eine transitorische Kunstphase: in der autoritativen,
reglementierten, abstrakten Form des Klassizismus be-
griff Rußland den europäischen Geist und machte sich
ihn zu eigen. Der Klassizismus wurde zum traditions-
bildenden Schicksal dieser Stadt, deren strenges Ant-
litz, von Puschkin geliebt und besungen, unvergänglich

klassizistische Prägung trägt.

*

Petersburg, das heutige Leningrad, hat seihe Vor-
rangstellung an Moskau zurückgeben müssen; seine

literarischen und sozialen Lebens umfassende Erschei-
nung. Anders als in der breitspurigen, bunten, lauten,
chaotischen Kaufmannsstadt Moskau verlief das Leben
in der Beamtenstadt Petersburg: die starre, durch-
dachte Struktur der Ministerien bestimmte den geregel-
ten Rhythmus des sozialen und gesellschaftlichen Ab-
laufs, mit dem auch Stadtbild und Landschaft in Ein-
klang standen: repräsentative Paläste, zu monumen-
talen Straßenzügen gereiht, ein majestätischer Strom,
von Granitquadern eingedämmt, eine karge, gepflegte
Vegetation, eine atmosphärische Tönung in Weiß und
Grau. Alle genremäßigen, intimen, gemütvollen Züge
fehlen dieser Stadt, die kein ..Mütterchen“ war, sondern
eine vornehme Dame.

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