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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 11./​12.1929/​30

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1./2. Novemberheft
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Ben Gavriʾel, Mosheh Yaʿaḳov: Das Antlitz der Landschaft: Versuch einer Kunstbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26238#0115

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Gleichnisse sind für die seelischen Schwankungen des
Einzelnen. Die unerhörte Assimilationsfähigkeit dieses
Volkes — vergleichbar nur der des chinesischen — mit
der es immer wieder von neuem seinen Lebensstil aus
dem Stil dieser Landschaft schuf bis herauf in diese un-
sere Tage, da Menschen, seit ein paar Jahren im Lande,
sich in unglaublicher Weise auch äußerlich wandeln -
diese Fähigkeit, in allen Extremen zu Hause zu sein, ist
eine Manifestation dieser Landschaft.

Jerusalem, „die Stadt der Mitte“, die in ihrer Eigen-
schaft als Schmelztiegel der Nationen nur in New York
eine — diametral entgegengesetzite — Parallele hat,
diese Stadt aus ihren Einwohnern verstehen, heißt nichts
anderes, als ihre Landschaft verstehen. Dies aber ist
das Größte, das von einem Menschen verlangt werden
kann, denn dies heißt demütig sein und in das Milieu sich
ohne andere Bindungen und Reserven hineinschmiegen.
Dann erst, aus innen heraus, ist vielleicht ein
Verstehen möglich. Aus diesem Grund mußten beinahe
alle Maler, die aus Europa kamen, hier schließlich ver-
sagen. Aus diesem Grund konnte Keiner die Stimmung
Jerusalems in Farben einfangen, wie beinahe Keiner die
Menschen dieser Stadt zu zeichnen verstand, weil sein,
andern Klimaten entwachsener Intellekt ihm die grund-
legende Erkenntnis verwehrte, daß Leidenschaft und
Pathos aus der Landschaft zu verstehen sind.

ln einem Fall aber - wenn man von dem er-
schütternden Graphiker Leopold Krakauer (Elka) ab-

Abb. 2. Dorf bei Jerusalem

sieht — scheint ein Versuch Wesentliches erfaßt zu
haben. Eine Frau in Jerusalem, Anna Ticho, mit der
Schwäche und allen natürlichen Mängeln einer Frau als
Zeichnerin ausgestattet, ist aus dem Instinkt heraus, ohne
besondere künstlerische Schulung, dem Antlitz dieser
Landschaft und der Landschaft in diesen Antlitzen nahe-
gekommen. Wenn nun auch ihre Arbeiten nicht von
gleichmäßigem Wert sind — einzelne sind von Krakauer
(von dem übrigens die Wiener „Albertina“ einige Stücke
besitzt) vielleicht beeinflußt, weil er eben jeden Maler
in diesem Land beeinflussen muß, sobald die Landschaft
ziun Sujet wird, sind sie doch interessant genug, um
nicht nur im Zusammenhang mit dem oben Skizzierten,
sondern auch vom Standpunkt künstlerischer Wertung
dargestellt zu werden. Anna Ticho ist vornehmlich
Graphikerin. (Dies ist kein Zufall, denn nur graphisch
ist die Schwingung und die Stimmung dieser Landschaft
zu erfassen, für die noch keine künstlichen Farben erfun-
den wurden.) Was sie zeichnet sind Miniaturen, selbst
wenn sie große Flächen bedecken, und es ihr großes
künstlerisches Glück, daß sie auf diese minituös präzise
Art die Landschaft erfassen will, denn das große harte

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