Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen
— 11./12.1929/30
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https://doi.org/10.11588/diglit.26238#0173
DOI Heft:
1./2. Januarheft
DOI Artikel:Tietze, Hans: Moderne Kunst und alte Kunst
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.26238#0173
Wesenseinheit sind, bleiben wir uns ihrer Gegensätzlich-
keit bewußt. Väter und Söhne sind geborene Feinde, aber
auch natürliche Freunde, eines Blutes, nur eben alt und
jung —- wie die Kunst. Wir umfassen diese mit dem
gleichen Gefühl, das sich aber der Grundverschieden-
heit der Voraussetzungen entsprechend verschieden
auswirken muß, wenn dieser Zwiespalt nicht die eine
oder die andere Seite schädigen soll. Wenn wir von
alten Werken die unmittelbare Lebendigkeit der moder-
nen verlangen, so müssen sie uns altmodisch, verzerrt
und plump erscheinen; und wenn wir an die modernen
mit der Erwartung herantreten, die selbstverständliche
Ruhe und Beziehungsfülle zu finden, die die alten so
erdenschwer machen, so müssen sie uns notwendig
als unfertig, zerrissen und problematisch erscheinen.
Bei gleicher Bereitwilligkeit, alte und neue Kunst auf-
zunehmen, haben wir dort die Pflicht zur Objektivität,
hier das Recht zur Subjektivität. Das alte Kunstwerk
fordert dadurch, daß es alt ist, ein Etwas an Pietät und
williger Unterordnung, das dem modernen Werk gegen-
über nicht nur fehlt, sondern durch ein Stück Angriffs-
lust ersetzt ist. Die Individualität des lebenden Künst-
lers fordert den Widerstand des Beschauers heraus, am
Zeitgenössischen betätigt sich unser eigener Existenz-
wille in jeder Form. Es macht uns gewiß, daß wir
lebendig sind, während uns Vergangenes fühlen läßt,
daß es lebendig ist; alte und neue Kunst sind die gleiche
Substanz, zu gegensätzlicher Kraftentfaltung verdichtet.
Victor Tischler, Damenbildnis
Der Wiener Künstler hat dieses Porträt während der Dauer seiner
Ausstellung bei Casper in Berlin vollendet. Das Werk ist in
Komposition und Farbe von außerordentlichem Reiz
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keit bewußt. Väter und Söhne sind geborene Feinde, aber
auch natürliche Freunde, eines Blutes, nur eben alt und
jung —- wie die Kunst. Wir umfassen diese mit dem
gleichen Gefühl, das sich aber der Grundverschieden-
heit der Voraussetzungen entsprechend verschieden
auswirken muß, wenn dieser Zwiespalt nicht die eine
oder die andere Seite schädigen soll. Wenn wir von
alten Werken die unmittelbare Lebendigkeit der moder-
nen verlangen, so müssen sie uns altmodisch, verzerrt
und plump erscheinen; und wenn wir an die modernen
mit der Erwartung herantreten, die selbstverständliche
Ruhe und Beziehungsfülle zu finden, die die alten so
erdenschwer machen, so müssen sie uns notwendig
als unfertig, zerrissen und problematisch erscheinen.
Bei gleicher Bereitwilligkeit, alte und neue Kunst auf-
zunehmen, haben wir dort die Pflicht zur Objektivität,
hier das Recht zur Subjektivität. Das alte Kunstwerk
fordert dadurch, daß es alt ist, ein Etwas an Pietät und
williger Unterordnung, das dem modernen Werk gegen-
über nicht nur fehlt, sondern durch ein Stück Angriffs-
lust ersetzt ist. Die Individualität des lebenden Künst-
lers fordert den Widerstand des Beschauers heraus, am
Zeitgenössischen betätigt sich unser eigener Existenz-
wille in jeder Form. Es macht uns gewiß, daß wir
lebendig sind, während uns Vergangenes fühlen läßt,
daß es lebendig ist; alte und neue Kunst sind die gleiche
Substanz, zu gegensätzlicher Kraftentfaltung verdichtet.
Victor Tischler, Damenbildnis
Der Wiener Künstler hat dieses Porträt während der Dauer seiner
Ausstellung bei Casper in Berlin vollendet. Das Werk ist in
Komposition und Farbe von außerordentlichem Reiz
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