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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Homer
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0070

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17.


14


Honier.

„Was ist uns Hekuba?" Wieviel aber ist uns Homer! „Viel" —
ist das wirklich wahr? Und „uns" — wer siud die wir? Wenn es
aber so sein sollte, warum dann?

Wir wissen nicht, wer er war, wir wissen, wenn uns nur das histo-
risch Verbricfte gilt, nicht cinmal, ob er war. Bor Sonnenaufgang,
im ersten Morgengrauen der Geschichte, fern am Horizont über dem
schwarz noch lagernden uferlosen Meer, wcrden die Wolken zu Ge-
staltcn. Männer, die strciten und kämpfen, daß unsere Knabenhcrzen
höher schlagcn, daß unscrc Jugend ihnen Zuschaucr wird, daß wir ihnen
Gefährten wcrdcn möchten, daß wir sie bewundern und hassen als die
herrlichsten und die furchtbarsten Helden aller Zeit und allcr Welt,
die umschwebt sind von Ueberirdischen und umrankt mit Zaubergeflecht.
Eine Weile, dauu treten gelehrte Männer zu uns heran und sprechen
uns von Hexamctern und griechischen Dialekten und stärken unscre Freude
an jencn Gebilden meistens nicht. Unser Leben vergrößert sich, der
Tag wächst herauf, die Wolken am Morgenhorizont werden hell über-
strahlt vom brenncnden Sonnenlichte des Heutc. Wie aber das große
Gestirn sich wcstwärts bewegt und am Zenith vorbei, da ist uns, als
fäuden wir dieselben Gebildc anch drüben gegen Niedergang. Und wie
wir nun um uns blickcn, berührt es uns seltsam: als ständen sie um
unsre Lcbensinscl überall, wo nur die Weiten sich gegen die Wolken
verliercn. Wir bcginncn zu begreifen, warum unsre eignen Großen immer
und immcr wicdcr zu ihnen hinblickcn mußten. Und geht unsre eigne
Soune niederwärts, so beginnt ein goldiges Leuchten über all dem
Kampf und Jammer, all dcm Jubel und all der Klage der Wolken-
gistalten dort, und wunderbar: sie verdichten sich in ein Menschen-
angesicht, das blinden Auges mit dcm Geiste das Licht trinkt. Da
versteheu wir, warum die griechische Kunst kein anderes Antlitz sv
leuchten lassen konnte von Seele, wie das Homcrs.

Es gibt kaum ein zweites wunderbares Beispiel für das, was wir
Menschen die Unsterblichkcit deS Schönen nenncn, wie das Schicksal der
Jlias und der Odysscc. Wer hat sie gcschaffcn? Wir wisscn es nicht. War es

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