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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 23 (1. Septemberheft 1904)
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Motta, José Viana da: Bayreuth nach New York
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Muthesius, Hermann: Unsre Kunstzustände Ausdruck unsrer Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0574

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Wie hätte Frau Edel das Gebet so singen können, selbst mit ihrem
wunderbaren Atem, wenn das Tempo zu langsam gewesen wäre?
Man muß eben als Zuhörer auch „Atem" haben. Der Tadel an
den langsamen Tempi in Bayreuth ist überhaupt ein trauriges Symp-
tom, denn es zeigt, daß es vielen Hörern einerseits an Demonstra-
tionskrast fehlt, andrerseits, daß sie nur noch durch Galopptempi auf-
zuwecken sind. Die Wirkung war gerade durch die Breite eine so
tief innerliche, weihevolle wie noch nie.

Wer an Kleinigkeiten in Bayreuth mäkelt, der scheint anzu-
nehmen, daß Bayreuth Sänger aus dem Boden zu stampfen vermöge,
die alles köunen. Genug, wenn einzelue Künstler wie Frau Edel,
Frl. Wittich, Bertram da sind. Daß Bayreuth sich keinen entgehen
läßt, der seine Zwecke erfüllen kann, hat man gesehen. Was war
van Dyck, bevor er dort gcsungen hatte? Daß Künstler hie und da
nicht die höchste Vollcndung erreichen, daß sie nur Menschen, keine
Götter sind, hindert nicht, daß das Ganze in Bayreuth doch wie
Vollendung wirkt, weil die Einheitlichkeit des Stils das Einzelne nicht
hervortreten läßt, das weniger Vollendete verschwindet und das wirklich
Vollendete wirkt wie selbstverständlich.

Bayreuth soll Vorbild für alle Bühnen sein, abcr nur „Muster-
theater" ist es wahrhaftig nicht. Verstummte es, es bliebe uuersetzlich.
Freueu wir uns, daß es etwas gibt in diesem Leben, das fern von
allen andern Kunstgenußmitteln geweiht in seiner Einsamkeit dasteht.

I. vianna da Motta.

vinsre Runstrusläncks Husäruck unsrer Rultur.*

Je länger man über unsre deutschen künstlerischen Zustände nach-
denkt, um so mehr gelangt man zu der Ueberzeugung, daß sie von
unsern allgemeinen Kulturzuständen nicht losgelöst werden könneu, ja
sie sind eigentlich nur ein Ausfluß dieser Kulturzustände nach einer
bestimmten Richtung hin. Die Kunst eines Volkes ist eine Aeußerung
scines Charakters. Sie wechselt dabei mit den zeitlichen Stimmungen
der Volksseele und mit der Färbung, die der Zeitgcist dem Volks-
charakter gibt. Auch Schicksale des Volkes prägen sich iu seiner Kunst
aus, man denke an den Glanz der Kunst der französischen Ludwige,
au die deutsche Kunst nach den Befreiungskriegen, die sich in die Luft-
gesilde des griechischen Jdcalismus rettete und dabei sich im w^rklichcn
Leben iu Kärglichkeit einzurichten gezwungen war.

Die letzten Jahrzehnte haben nun Deutschland größere Verän-
derungeu iu seiner äußeren und inneren Lage gebracht, als irgendeine
andere Zeit seiuer Geschichte. Aus der unscheinbaren Kleinheit, die
ihm noch um die Mitte des Jahrhunderts eigen war, trat es nach
seiner Eiuigung als neue Erscheinung auf die Weltbühue. Ein un-
geahnter Aufschwung in wirtschaftlicher Beziehung folgte, der den
Nationalwohlstand binnen kurzem vervielfachte. Handel und Jndustrie
beganneu zu blühen, ein neuer, reicher Stand mit frisch crwvrbenem

* Wir entnehmeu diese Ausführungen unsres Mitarbciters Hermann
Muthesius seinem neuen Buche „Kultur und Kunst" (Leipzig, Dicderichs),
auf das wir zurückkommen werden und zn desscn Empfehlnng sie sprechen sollcn.

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Aunftwart
 
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