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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 24 (2. Septemberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Mörikes Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0626

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Aber zugleich von der höchsten harmonischen Schönheit! Wo
wäre der deutsche Dichter, bei dessen Sprache wir von entzückendem
Wohllaut, von süßestem Tönen auch nur ebenso reden dürften, wie
bei ihm, es sei denn wiedernm Goethe bei dem Allerholdesten, was
er zu geben hat? Man hat Platen einen Meister der Form genannt
— man vergleiche seine Strophen etwa mit „Erinna an Sappho".
Auch bei der Eindeutschung antiker Formen ging der Weg von Goethe
über Hölderlin nicht zn ihm, sondern zu Mörike.

Auch sonst ist ja der Einfluß der Antike bei Mörike da, und
man hat oft aus ihn hingewiesen. Aber zugleich ist der Einfluß ihrer
beidcn „Widerparte" unverkennbar da. Wie lebt in seiner Wald- und
Wanderwelt, in seinen Nymphenreigen und in Orplid die deutschc
Romantik! Wie tänzelt nicht nur auf dem Zelter des Prinzeßleins
im „Gärtner" das Rokoko durch seine Verse, und wie behaglich breitet
sich anderseits die Liebe des Rokoko zum Kleinen aus! Doch ist er
weder Klassizist, noch Romantiker, noch Rokokopoet. Noch ist er Eklek-
tikcr in dcr Lyrik, denn wo mischte er je äußerlich, wo mischte er
überhaupt? Er war, was er gab. Wenn jede Nichtung die einseitige
Entwicklung einer Stärke ist, so trägt er die Stärken als Natur-
anlagen in sich, die sonst in Nichtungcn auseinander strebcn, und seinem
dichtenden Jch ward Kraft genug zugeführt, um sie alle in Harmonie
miteinander zu entwickeln. Da ist vom Rokoko die Anmut des Spiels,
nicht aber löst sich die Form in Gcschnörkel anf. Da bleibt von
der Romantik Sagen- und Waldeshanch, nicht aber verdünnt sie hier
allen Sonncn- zu Mondenschein. Da ist bei der Antike so wenig
von Rhythmen, die nach dem Schema skandiert sind, auch von jener
„Marmorschönheit und Marmorkälte" der Mißverstehenden zu finden,
wohl aber ist da ihr Herrlichstes, ihr mythenbildendes Verwandeln,
ihr Umschauen der Gotteswelt in Gestalt. Und wenn in dem Reichtum
Mörikescher Lyrik je nach Stoff und Stimmung die eine Kraft die
Führung übernimmt, so gehen die anderen immer als leise Begleite-
rinnen im Hintergrunde mit. Auch in diesem Licht steht Mörike der
Lyriker nicht wie ein Epigone, aber wie ein jüngerer Bruder neben
dem Lyrikcr Gocthe. Er ist der zweite große deutsche Lyriker der
H a r m o n i e.

Unter dem Verlangen nach beruhigcnder Harmonie betätigt sich
ja nicht nur seine Knnst als Technik, die ein Kunstwerk schafft, son-
dern steht scine ganze Seelenentfaltung überhaupt. Nun haben wir
der „frischen", der „optimistischen", der „wohltätigen" Poeten über-
genug, von dcnen manche dasselbe sagen, und die doch im Grunde
nichts weitcr als „Seichtlinge" sind, heiter oder schwärmerisch gestimmte
Grobfühler an der Oberfläche. Wer Mörike nicht verstand, hat ihn
wohl als talentreicheren aber im Grunde „harmlosen" Lyriker nnd
unbedeutcndcn Menschen nicht allzu weit von jenen eingeordnet. Jn
Wahrheit zeigt sich die geistigc Bedeutnng des Menschen Mörike hier.
Fein, daß die leiseste Ünharmonie des Lebens sein Gefühl verletzt,
begnügt es sich doch nie mit einer Phrase, mit einer Ueberkommen-
heit, mit cinem Scheine, um diese Verletznng den andern und sich
zn verdecken, zu vertuschen, um sich über sie wegzutäuschen. Son-
dern es schwebt mit dem Humore so hoch, bis es all das Störende

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