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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1922)
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Corbach, Otto: Drei Jahre in Südrußland
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0026

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zu gehen. In Odessa sollte ich ein vorwiegend unter deutschen Kolonisten
verbreitetes deutsches Blatt zu einer modernen Zeitung ausgestalten. Diesem
Rufe folgte ich umso lieber, als ich so meinem „Drang nach dem Osten"
folgen und zugleich wertvolle Reste verschlagenen, verlassenen deutschen
Volkstums erhalten helfen konnte. Zu Hunderttausenden sind ja, wie an
der Wolga, so auch im Schwarzmeergebiet noch Nachkommen jener deutschen
Bauern angesiedelt, die vor hundert bis hundertfünfzig Iahren aus unge--
mütlichen heimischsn Verhältnissen ostwärts zogen, um in Rußland men--
schenleere Steppen unter den Pflug zu bringen. Nur kurz war der Traum,
als Redakteur der „Odessaer Zeitung" und Berichterstatter reichsdeutscher
Blätter von Odessa aus die deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet für
die moderne deutsche Kultur erschließen zu können. Dem Zusammenbruch
Deutschlands folgte die Abschnürung jeglichen geistigen Verkehrs mit der
Heimat, und die beiden in Odessa erscheinenden deutschen Tageszeitungen
mußten, durch Verkehrsschwierigkeiten gezwungen, ihr Erscheinen noch vor
Anbruch der zweiten Bolschewistenherrschaft einstellen.

Halb freiwillig, halb unfreiwillig verwandelte ich meine Rolle in Odessa
nach dem Einmarsch der roten Armee in die eines ehrlichen Maklers
zwischen den deutschen Kolonisten und den Organen der Sowjetregierung.
Das Zentralkomitee des Verbandes dsutscher Kolonisten im Schwarzmeer-
gebiet wurde aufgelöst, dessen Vereinsorgan, ein Wochenblatt, unterdrückt,
das Vereinseigentum beschlagnahmt. Die führerlos gewordene Masse des
deutschen Kolonistentums wurde einer Gruppe von „Spartakisten" über-
antwortet, von denen die meisten Abenteurer waren, die weder von
wirklichem Kommunismus noch vom Wesen des Vauerntums eine Ahnung
hatten. Ich hatte mir schon vor Ankunft der Bolschewiki durch Vortrags-
reisen in eine größere Anzahl deutscher Kolonien dort gsrade in den
Kreisen viel Vertrauen erworben, denen die Sowjetregierung dienen sollte:
bei den armen und „mittleren" Bauern. So kam es, daß tch unD einige
andere mit den Verhältnissen in den deutschen Kolonien vertraute „In-
tellektuelle" von Organen der Sowjetregierung der Mitarbeit an der
Verwaltung der deutschsprechenden Bevölkerung im Schwarzmeergebiet ge-
würdigt wurden. Abgerechnet die Zwischenzeit der Denikinschen Herr-
schaft, die vom Sommer 1919 bis zum Februar 1920 dauerte, war ich bis
kurz vor meiner Abreise aus Odessa ununterbrochen in Dieusten der Sowjet-
regierung. Als aber im Sommer 1920 für die Sowjetbehörden in der
Ukraine die Parole ausgegeben wurde, den „Klassenkampf ins Dorf hin-
einzutragen", brachte mich mein Bestreben, ausgleichend und vermittelnd
zu wirken, in solchen Gegensatz zu Anordnungen der führenden Kommu-
nisten, daß ich die Leitung der auf meine Anregung gebildeten deutschen
Sektion im Odessaer Kreisausführungsausschuß niederlegte. Ich zog mich
in ein Dorf zurück, um mich dort mit der bescheidenen Rolle eines Dorf-
schullehrers zu begnügen.

Von der materiellen Not, unter der die Bevölkerung Sowjetrußlands
leidet, habe ich sehr viel kennen gelernt. Diebe und Räuber sorgten dafür,
daß ich nicht einmal durch Verkaus entbehrlicher Sachen jeweiligem Mangel
am Notwendigsten abhelfen konnte. Ich war das Opfer von vier Ein-
brüchen und zwei Raubübersällen, und mit nichts als einem zerschlissenen
Sommeranzug an eigenem Besitz durchlebte ich den vorletzten harten Winter
in der Nkraine. Dennoch habe ich unter diesen Zufällen meines Schick-
sals in Südrußland kaum gelitten^ sin andauernder äußerer Zwang, unter

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