Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1922)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Furcht: (zweiter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0247

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Furcht

(Zweiter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins*)
unger, von dem wir im ersten dieser Aufsätze sprachen, ist eine Macht

gleichsam außer uns. Er ist kein „wirklicher" Trieb. Er wird erlitten

als Folge äußerer Amstände, wird nur „erlebt". Er wird zuerst körperlich

erlebt. Rasch gestillt, geht er vorüber ohne tiefere Spur. Erst wo Mangel
ihn verlängert, beginnt er zu „herrschen". Von Stunde zu Stunde wirft der
gequälte Körper neues Irrsal in die Seele, von Tag zu Tag unerträglicheren
Krampf; Gefühle schwinden, Gedanken vergehen, Wille verblutet, bis auf
einen: Abwehr dieses Grauens. So vergiftet er die Seele. Aber er wird nie
zur seelegeborenen Macht, bleibt stets „außer uns", eine Tatsache, eine Ver-
umständung. Ilnd seine dauerndere nachhaltigere, seine längere Zeiten und
größere Milliardenmassen vion Menschen zwingende Macht übt er nicht
allein, nicht aus Eignem — die wirklichen Hungerperioden und Hungergegen-
den sind in der Weltgeschichte und aus dem Erdboden kurz und klein! —,
sondern in jener dämonischen Gemeinschaft mit einer wirklich seelischen
Grundmacht, die wir schon nannten, — der Furcht. Furcht vor Hunger hat
minder paroxystische Zustände, minder laute und grelle Katastrophen, minder
wahnwitziges Leiden im Gefolge, als Hunger,- sie führt wohl kaum je zum
Tode. Doch ihre stillere, heimlichere, nicht wie Hunger selbst durch äußeres
Tun vernichtbare, gespenstisch alldurchdringende Macht ist riesengroß und
treibt jeden Tag und allerorten Menschen in Taten und Leiden unwider-
stehlich hinein.

Furcht! die erste Macht ist damit genannt, die in uns grundtief lauert.
Sie ist nicht äußere Tatsache, sondern inneres Erlebnis. Nicht ein Zug des
Weltgefüges, sondern ein Teil des Wenschenwesens. Wo immer wir den
Schleier von dem Verhältnis heben, in dem wir zu den harten Tatsachen der
Welt stehen, überall der gleiche Anblick: die Furcht vor ihnen ist wirksamer
als die Tatsache selbst. Tod, oft ward es ausgesprochen, ist nichts, Todesfurcht
alles. Strafe ist, in weiten Grenzen, erduldbar, kann sogar Läuterung
bedeuten — Furcht vor Strafe ist ein gewaltiger Hebel weittragender Ent-
schließungen. Mangel — wir haben gesehen, wie viel davon crtragen werden
kann, Furcht vor Mangel ist das schwächere Geschwister der Hungerfurcht.
Vereinsamung, Greisenalter, Irrsinn, Krankheit, Gewalttat, seien sie in Wahr--
heit alle Leiden oder nicht Furcht verzehnfacht ihre Wirkung, ruft sie zu-
weilen erst herbei, versklavt unsere Entschließungen, unsere Gefühle, unsere
Gedanken, unsere Stimmungen, unser Auftreten. Furcht ist die Ahnung,
die Vor-Resonanz, die Angriffläche der Leiden der Erde in uns; ist dlie
Slchwächie, an der, in der wir gepackt werden, geschüttelt, zermürbt, gewürgt
und zerrissen. Rathenan nennt sie eine Grundstimmung; es mag sein, daß
sie am tiefsten Grunde sitzt. Iedenfalls ist sie uraltes Erbstück unseres Wesens.

Das Leben der frühesten Menschenhorden war von tausendfacher Furcht
bis ins Tiefste des Bewußtseins hinein bestimmt. Der Mensch stand in der
Welt, durchwanderte sie, von Schrecknis und Drohung umlauert in ieder
Stunde. Der Tod des Nächsten, das grausige Erkalten des blutwarmen
Körpers, die irren Zuckungen des Röchelnden erfüllen den Primitiven mit
haltloser Furcht. Krankheit, die den eben noch Gesunden würgt und seine
Stunden in Marthrien verwandelt, durchzittert den Zusehenden mit eisigem

Der erste Teil dieser Betrachtungen erschien im Iuniheft dieses Iahres-
 
Annotationen