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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1922)
DOI Artikel:
Bonus, Beate: Die Saga von Hrolf Kraki und die Saga vom Krist
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Schumann, Wolfgang: Geschlechtstrieb: dritter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0383

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Da schwang sich eine sehr junge Stimme durch die Stille: „Wann wer-
den sie hier vorüber kommen auf ihrem Weg mit dem Krist, wenn sie hin-
auffahren?" —

Und König Olafs Stimme antwortete: „Das wünschte ich, daß es zu
meiner Todesstunde geschähe und daß mein Leben mir so gelänge, daß ich
zwischen ihnen beiden hinauffahren möchte, zwischen König Hrolf und dem
Krist.« —

Geschlechtstrieb

Dritter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins*

eburt und Tod nennen wir die Verwandlungformen der Materie,
I^Hsofern sie Organisches mittreffen. Im weiten Sinn der Worte stirbt
^-^nicht nur Tier und Mensch und Pflanze, auch Gebirge erleiden in
Aonen den Tod, Meere sterben und Erdensterne. Nicht Kinder und Iunge
allein werden geboren, der Mutterschoß glühender Nebel gebiert Gestirne
und die Wolke niederströmenden Regen. Nichts vergeht. Iedes Vergehen
ist ein Werden. Nur eines geschieht, so weit unser Auge reicht, nie:
Leben wird in keinem Vergehen. Wo Organisches stirbt, flieht das Leben
unaufhaltsam, und Nnorganisches allein bildet sich neu. So ist das Leben in
steter Gefahr, zu enden. Denken wir, daßnur kurzeZeithindurchkeinederuns
unbegreiflichen Neugeburten des Lebens geschähe, so wäre die Erde „aus-
gestorben". Damit auch das Leben zeitüberdauernd sei, dazu genügt nicht
das Sterben der Organismen. Leben will weitergegeben, will gezeugt wer-
den. Das Aussterben des Lebens verhindert, die Gefahr des Rückfalltodes
bannt und das Organische befestigt dauernd ein den Organismen einge-
pflanzter Trieb, dessen Motorkräfte die Weitergabe des Lebens erzwingen
und umspielen. Das ist, auf höherer Stufe, der Geschlechtstrieb.

Eine unweise Neigung, den Geschlechtstrieb, der gewaltig, unabänderlich
und eigenen Rechts ist, zu entschuldigen oder zu verhüllen, hat ihm darum
den Namen Fortpflanzungtrieb beigelegt, weil er zugleich die Fortpflan-
zung bewirkt. Aber wir nennen die Phantasie nicht darum Büchermach-
trieb, weil aus ihrem Walten tatsächlich Bücher entstehen, und das Schaffen
der Musiker bezeichnet niemand als Konzerttrieb, weil es eine Bedingung
für das Vorkommen von Konzerten ist.

Mit geringer Einsicht hat man den Geschlechtstrieb als „tierischl' be-
zeichnet, da er uns mit den Tieren gemein sei. Nun, Atmung, Nahrung,
Gesicht und Geruch sind uns auch mit ihnen gemein, aber niemand nennt
sie tierisch. Und doch hat menschlicher Eeschlechtstrieb weit weniger Ahnlich-
lichkeit mit tierischem Geschlechtstrieb als menschliche Atmung und Nah-
rung, menschliches Sehen und Riechen mit tierischem. Wohl, wie der
tierische wird der menschliche Organismus mit Spannung geladen und
entlädt er sich davon in erregtem Vorgang; doch tausendfach und aber-
tausendfach übertrifft die leibliche und seelische Ausbreitung, Innenwir-
kung, Außenwirkung des Geschlechtstriebes im Menschen diejenige im
Tiere, wie denn auch der Mensch, anders als das Tier, durch seine Ge-
schlechtlichkeit dauernd und an jedem Tage mitbestimmt erscheint in seinem
Wesen und Tun.

Dies und gerade dies unterscheidet — neben dem Leben der Gefühle und
Gedanken — den Menschen vom Tier, und dies erschwert alle Darstellung

* Die ersten Teile erschienen im Iuni- und Angnstheft
 
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