DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1922)
DOI Artikel:Schumann, Wolfgang: Mord
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0289
Mord
r^^^it sinnschweren Fabeln beginnt im Buch der Bücher die Menschen-
/ « geschichte. Aller Sünde geht die Erkenntnis voran. Nichts an-
'^"^'^'deres als Erkenntnis. Nichtig ist der Vorgang, durch den dies
geschieht: zwei Menschen essen süße Frucht. Schwer und hart ist die
Bedeutung, die gestaltender Sinn dem Ereignis verlieh: Klugheit erwacht
in ihnen. Aus dem paradiesischen Zustand inniger Einigkeit mit dem
Gesetz der Welt, mit Gott, aus einem Dasein, das nie in Wahrheit und
Wirklichkeit von Menschen erlebt ward, das dem zergliedernden Gedanken
unzugänglich, der Phantasie schwer vorstellbar, dennoch aber dem Sehnen
der Seele unauslöschliches Ziel ist, reitzt erwachende Klugheit das Mensch-
tum hinein in die Bahn des Leidens, der Irrnis, der eignen Verantwor-
tung, des Aufstiegs — und der Verheißung einer Wiederkehr in para-
diesische Einigkeit. Im Stande der Klugheit aber, so führt der weise
Fabelnde sein Werk fort, ist die erste Tat des Menschen Mord. Sünde, von
altersher umklungen von den Stimmen bluterstarrenden Schreckens, un-
sühnbar, unauslöschbar, uicht innerlich noch äußerlich tilgbar, widergött-
lich-unmenschliche Vernichtung des Grundgutes alles Lebendigen, des Lebens
selbst, ist die erste Frucht der neuen Begabung des Menschtums. Tiefe
Einsicht allein konnte diesen Zusammenhang stiften, daß im ersten Folge-
bild schon die grauenvollste Nntat erscheint. Denn Erkenntnis kennt keine
Grenzen des Erlaubten, Klugheit redet alle Einwände aus der Welt. Wir
„erkennen" Nrsachen und Folgen, Verkettungen und Widersprüche, Maße
und Zahlen. Nicht aber „erkennen" wir Gebotenes und Verwehrtes.
Andere Mächte sind es, die uns binden und leiten. Klugheit, von An-
beginn uns eingeboren, notwendige, wirklich notwendende Kraft des
Menschtums, hat in Iahrtausenden die Erde verwandelt, Natur unter-
worfen, unter unzähligen Irrungen immer neue Ordnung mit wechselndem
Erfolg entworfen, für jeden Zweck das Mittel ersonnen, hat heute schon
zukünftiges Werden erdacht und vorbereitet, hat bluttriefenden Dienst
Augustheft 022 jXXXV, o)
2V
r^^^it sinnschweren Fabeln beginnt im Buch der Bücher die Menschen-
/ « geschichte. Aller Sünde geht die Erkenntnis voran. Nichts an-
'^"^'^'deres als Erkenntnis. Nichtig ist der Vorgang, durch den dies
geschieht: zwei Menschen essen süße Frucht. Schwer und hart ist die
Bedeutung, die gestaltender Sinn dem Ereignis verlieh: Klugheit erwacht
in ihnen. Aus dem paradiesischen Zustand inniger Einigkeit mit dem
Gesetz der Welt, mit Gott, aus einem Dasein, das nie in Wahrheit und
Wirklichkeit von Menschen erlebt ward, das dem zergliedernden Gedanken
unzugänglich, der Phantasie schwer vorstellbar, dennoch aber dem Sehnen
der Seele unauslöschliches Ziel ist, reitzt erwachende Klugheit das Mensch-
tum hinein in die Bahn des Leidens, der Irrnis, der eignen Verantwor-
tung, des Aufstiegs — und der Verheißung einer Wiederkehr in para-
diesische Einigkeit. Im Stande der Klugheit aber, so führt der weise
Fabelnde sein Werk fort, ist die erste Tat des Menschen Mord. Sünde, von
altersher umklungen von den Stimmen bluterstarrenden Schreckens, un-
sühnbar, unauslöschbar, uicht innerlich noch äußerlich tilgbar, widergött-
lich-unmenschliche Vernichtung des Grundgutes alles Lebendigen, des Lebens
selbst, ist die erste Frucht der neuen Begabung des Menschtums. Tiefe
Einsicht allein konnte diesen Zusammenhang stiften, daß im ersten Folge-
bild schon die grauenvollste Nntat erscheint. Denn Erkenntnis kennt keine
Grenzen des Erlaubten, Klugheit redet alle Einwände aus der Welt. Wir
„erkennen" Nrsachen und Folgen, Verkettungen und Widersprüche, Maße
und Zahlen. Nicht aber „erkennen" wir Gebotenes und Verwehrtes.
Andere Mächte sind es, die uns binden und leiten. Klugheit, von An-
beginn uns eingeboren, notwendige, wirklich notwendende Kraft des
Menschtums, hat in Iahrtausenden die Erde verwandelt, Natur unter-
worfen, unter unzähligen Irrungen immer neue Ordnung mit wechselndem
Erfolg entworfen, für jeden Zweck das Mittel ersonnen, hat heute schon
zukünftiges Werden erdacht und vorbereitet, hat bluttriefenden Dienst
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