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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1922)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Wieder bei der Reparationskommission: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0269

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Wieder bei der Neparatiorrskornmission

Berliner Brief

dem vor kurzem noch so viel beredeten Genua spricht heute kein
H Mensch mehr. Alles Interesse hat sich nach Paris auf die Verhand-
lungen der Reparationskommission verschoben, und statt der Hossnun-
gen aus den europäischen Areopag und seinen Führer Lloyd George hat sich
das Hoffnungsbedürfnis auf die amerikanische Anleihe geworfen. Was be-
deutet diese Verschiebung?

Sie ist zweifellos eine neue Wendung in den wirren Schicksalen, die der
Versailler Friede heraufbeschworen hat. In Genua herrschte die neue ameri-
kanisch-englische Idee, die seit Washington die Politik der einstigen Khaki-
Wahlen von Lloyd George mit ihrem Programm „der deutsche Kaiser wird
gehängt und der Deutsche wird alles bezahlen" abgelöst hatte. Das Progrrmm
von Washington wird man als kommerziellen Internationalismus und
Wiederaufnahme der Weltwirtschast unter Friedensgarantie der beiden
angelsächsischen Vormächte bezeichnen dürfen. Das erfordert eine Wiederher-
stellung und Stabilisierung der deutschen Wirtschaft und ein irgendwie gear-
tetes positives Verhältnis zu Rußland, sowie eine Dämpfung des Deutschland
von allen Seiten umstellenden und seinen Ruin teils herbeiführenden, teils
erstrebenden Napoleonismus. Dementsprechend wurde die moralische Welt-
propagauda umgestellt auf die Parole des kommerziellen Friedens, auf die
Anerkennung der endgültigen Unschädlichkeit Deutschlands und auf die Not-
weudigkeit einer zunächst europäischen und dann weltwirtschaftlichen Solida-
rität. Die Umstellung ist nach der jahrelangen Hetzpropaganda gegen die
deutschen Hunneu, Barbaren und alleinigeu Kriegsverbrecher nur mäßig
gelungen, und die französische Propaganda arbeitet dem geradezu entgegen
durch beständige Wiederholung und Verschärfung des Schulddogmas, das den
in Frankreichs Händen befindlichen Shylock-Schein bedeutet. Zwiegeteilt wie
Liese Weltpropaganda war auch die Vorbereitung für Genua. Lloyd George
kam mit seinem kommerziellen Weltfriedensprogramm und den zugehörigen
moralischen und weltanschaulichen Nnterlagen, mit der Ersetzung der Kriegs-
phraseologie durch eine neue Idee der Völkersolidarität auf der Grundlage
der heuts gegebenen territorialen Verteilung, die nur iu dem völlig unklaren
Osten einer Ergänzung und Festigung zu bedürfen scheint. Aber er kam
auch mit den Fesseln von Cannes und Boulogne, die ihm die Rücksicht auf
Frankreich auferlegte und die die Erörterung des sranzösischen Rechtes aus
die Reparation und die zugehörigen Straferpeditionen ausschloß. Die Ameri-
käner, dic Partner von Washington, schlossen sich angesichts dieser wenig
hoffnungsvollen Voraussetzungen aus und bezogen nur eineu Beobachtungs-
posten. Dank dem Äbergewicht von Lloyd George und der geschickten und
taktvollen Leitung durch die Italiener kam dann stn der Tat ein Kongreß
in den äußeren Formen der Solidarität und Gleichberechtigung aller Mächte
zustande, unzweifelhaft der erste große Fortschritt seit Versailles. Aber auch
dieser Fortschritt war zwiespältig wie die ganze Situation und ihre Vorbe-
reitung. In schwierigen Fällen trat die alte Situation der diktierenden Herr-
schaft der alliierten Kriegsmächte wieder ein, jetzt in Gestalt angeblicher pri-
vater Vorbesprechungen, die freilich mitunter ganze drei Tage dauerten
und im Grunde den Gang bestimmten. Der Kampf zwischen Lloyd George
und Poincare war offensichtlich, wenn auch in den Einzelheiten bis heute
noch nicht durchsichtig. Die Reparation, die die weltwirtschaftliche Lähmung

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