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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

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Heft 8 (Maiheft 1922)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0117

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Vom heute fürs Morgen

Nirwana

irwana, wie sie dich mißverstanden
haben! Dich, das große Iasagen
zur Welt, dich, das dn Liebe zn allen
Dingen bist, neidlose, versöhnende, bis
in die äußersten Zonen flutende Liebe,
die nirgends hochmütig vornbergeht!
Nichts wärest du, sagen sie, Lnde und
A-nflösung wärest du, wie ein großes
Loch, in das alles hineinfällt, ohne daß
man je ein Aufschlagen auf den Boden
hörte. Armes Nirwana, was sie aus
dir gemacht haben, großes, unendliches
Nirwana, wie winzig sie alle vor dir
blieben!

And du bist doch alles, bist doch das
ganze Geheimnis des Lebens in
einem Wort, bist — die Wahrheit.

Siehe, Mensch, hast du nie anf einer
Wiese gelegen und die Halme belauscht,
wie sie sich in die Sonne recken, oder
die Kräuter, wie sie sich breit auf der
Erde hindehnen? Hast du nie neben
einem Bache gesessen und gedacht: so
unbekümmert möchte ich anch von Stein
zu Stein springen, zwischen Blütenbor-
den entlang, so möchte ich auch zum
Strome wachsen, Lasten tragend, tau-
send Werke treibend, und endlich weit
münden ins Meer? Hast du nie in der
einen Minute Alexander den Großen
am besten begriffen und in der nächsten
wieder den anspruchslosen Diogenes,
in einer anderen etwa Don Iuan und
in der vierten den munteren Seifen-
fieder aus dem Märchen? And ist dir
dabei nie der Gedanke gekommen, daß
als Geschöpf der Natur am Lnde der
eine so viel Necht hat und gelten mag
wie der andere? Oder denke an die
Kunst. Manche Menschen schieben
Raffael beiseite und sagen, nur Michel-
angelo habe die Welt zutiefst begriffen
etwa als unermeßliches Leiden der
Kraft, die alle Formen zn eng findet
und doch immer wieder neue schafft.
Zu anderen wieder spricht gerade die
unbegreifliche Harmonie Raffaels wie
ein nnendliches, ewigss Gebet. Sieh:
Möglichkeiten, das Dascin anzuschauen
und zu «erleben, gibt es mehr, als alle
Milliarden, die wir erdenken könnten.
Und sie wollen alle ausgekostet sein.

Von irgendwem. Ein solches Auskosten
bist auch du.

And siehe, hier wird Nirwana wirk-
lich zur Auflösnng. Dein Ich ist nichts
Besonderes, nichts Unveränderliches, es
ist nur,ein Verschlungenssin vieler we-
bender Kräfte gu einem Knoten, erhellt
von einem Fünklein Bewußtsein. Aber
dieses Ich ist dein Gefäß, ist die
Schranke, die dich von allen anderen
Möglichkeiten, die Welt zu erleben, ab°
schließt. Und da in diesem Gcfäß nur
weniges Platz hat, draußen aber Un°
endliches webt, kommst du dir so leicht
verkerkert vor und nennst das Dasein
einen Betrug. Zerbrich die Schranke
zwischen dir und dem Leben, lerne die
anderen verstehen, greif sie mit deiner
Liebe, und dein Herz wird weit werden,
wie du es nie geahnt hättest. Wenn du
eine schöne Musik gehört hast, könntest
du am Lnde wohl kaum die einzelnen
Töne noch angeben. Aber als Stim-
mung trägst du doch das Ganze in dir.
Es ist alles noch da, auch wenn dir
Einzelnes schon entschwand.

Iede einmalige Gestalt ist vergäng-
lich und wer sich an ein solches Heu-
tiges hängt, muß Enttäuschung erle-
ben. Wenn ich aber alle Gestalten, alles
Geschehen von innen begreife, dann
habe ich das Einzelne — nicht mehr,
es hat sich irgendwohin verwebt in das
ewigc Spiel. Alles begreifen ist — die
Wahrheit. Alles besitzen, weil sein eigen
enges Gefäß gelöst wurde, ist — Nir°
wana. Martin Elsner

Weltanschauung und Naturdeutung

rnst Michel veröffentlicht unter die-
sem Titel bei Diederichs in Ieim
Vorlesungen über Goethes Naturan-
schauungen. Lr geht aus von dem Bar-
barentum der Europäer, aus dem
Schiller mit Hilfe der Kunst, das 19.
Iahrhundert mit Hilfe des technischen
Fortschritts herauszukommen versuch-
ten. Dieser zweite Weg habe ins Ver-
derben geführt: Der Geist der Gemein-
schaft wich aus den Völkern Europas
und mit ihm die kulturschöpferische
Kraft. Der Sozialismus als Mechani-
sierung der sozialen Mohlfahrtspflege

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