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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1922)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Die intimen Seiten der deutschen Lage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0039

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Großen, kochte, wusch und scheuerte und sprach am Abend sein Vaterunser.
Danach kam eines Morgens ein amtliches Papier ins Haus, das er lachend
in die Truhe Ignoramus warf. Er packte eilig zusammen und zog nach
Süden in dis Berge, immer höher hinauf in die reine Lnft und in die
Stille der Felsen. „Ia, wo kämen wir da hin," Pflegte er zu sagen, so oft
sein Blick hinabschweifte in die Täler, die er verlassen, „ja, wo kämen wir
da hin!"

Die intimen Seiteu der deutschen Lage

as deutsche Schicksal drängt sich vorerst immer mehr in der Finanz-
^F/frage zusammen. Die Reparationen und die Aufrechterhaltung des

eigenen Bestandrs durch immer neues Papiergeld, d. h. bloße Kredit-
anweisungen bewirken in engster Wechselwirkung den fortlaufenden weiteren
Sturz der Mark und damit die fortwährende Steigerung der Preise. Wenn
auch Wucher und Spekulation an der Preissteigerung massenhast beteiligt
sind, es wäre doch eine völlige Illusion, darin das Hauptübel zu sehen.
Wenn auch einzelne Menschen enorm „verdienen", so wäre es doch nicht
geringere Täuschung, die steigende Verarmung des Ganzen nicht sehen
wollen. Was erarbeitet wird, geht an die Entente, teils in Aufkauf von
Devisen, teils in rollenden Zügen voll Materials. Die eiigene Wirtschaft
im Hause wird mit den künstlichen Mitteln des Papiergeldes aufrecht erhal-
ten. Es ist ein Wunder, was alles damit noch zu schaffen ist. Aber einmal
muß die Seifenblase platzen, wenn sie auch eine Zeitlang schöne und
schillernde Farben zeigt.

Die Rückwirkungen dieses Zustandes, der in den sämtlichen östlichen
Ländern noch trostloser ist, und der gleichzeitigen Ausschaltung Rußlands
aus dem Weltverkehr erstrecken sich — für uns glücklicher Weise — auf
die ganze Weltwirtschaft, auf die Neutralen und die Sisgerstaaten, und
wirken auch dort immer verhängnisvoller. Das ist in Washington neben
der Erledignng der großen Gegensätze der Seemächte der zweite geheime
oder stillschweigende Verhandlnngsgegenstand gewesen und hat nach Cannes
geführt. Aber die Linsicht der Völker nnd Massen steht hinter der der
Führer, soweit sie diese Sachlage erkannt haben oder erkennen wollsn,
noch weit zurück, und es ist insbesondere in Frankreich fast unmöglich, ihr
Geltung zu verschaffen, weil dort Kammer und Führer gerade diese Dinge
nicht sehen wollen, sondern nur Frankreichs Gewinn aus dem entsetzlichen
Kriege und Frankreichs Sicherung in seiner heutigen Position. So hat
Washington und Cannes zum Stnrze Briands und znr Ministerpräsident-
schaft Poincares geführt. Das nun folgende Duels mit Lloyd George, der
die Lage eingesehen hat und zur Einsicht Lurch die englische Wirtschafts-
lage gezwungen wird, hat neben anderen aus Innenpolitik und Reichs-
Politik folgenden Schwierigkeiten die Stellung von Lloyd George selbst
erschüttert. Der Kampf um die Fortsetzung von Cannes in Genua und um
das ganze System dauernder und sich wiederholender Konferenzen hat zu
den schwersten englisch-französischen Konflikten geführt. Wie er ausgeht,
ist nicht zu sagen. In Wahrheit wird das Konferenz-System sich doch auf
irgendeine Weise durchsetzeir müssen. Inzwischen hat Amerika bereits in
der Weise zu der Durchkreuzung seiner Pläne Stellung genommen, wie ich
es das letzte Mal vorausgesagt habe. Es ist das erste Mal eine deutliche

Was bei dem Konferenzsystem für uns herauskommt, ist freilich dunkel und
mag uns mit vielen schweren Sorgen erfüllen. Es hat für uns nur den einen

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