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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1922)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Furcht: (zweiter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Debattier-Technik und die Kunst, recht zu behalten
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0250

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ben schien rn rhm, hat sich spat.entfaltet, was schlief, ist erwacht — Wachheit
aller Lebenskräfte strömt von ihm aus. Erstorben aber ist in ihm das uner-
füllbar--blinde BegLhren. So tief Leidenschaft in ihm glühen mag, sie erspäht
nicht Vorteil nnd Gewinn, sucht nicht zu erzwingen, was ihr nicht zukommt,
bedarf nicht der List und nicht der Berechnung. Entäußerung von dem Ich ist
sein Zeichen, das der Welt noch nicht angepaßt war, und Liebe hat diese ihm
geboten. Furcht begreift er und erkennt sie überall, denn auf seines Lebens
Stationen hat er auch sie durchlebt in allen ihren Gewalten und Formen.
Aber Erkenntnis, Anpassung, Entäußerung und Liebe haben ihn befreit.
Selbst der Tvd schreckt ihn nicht: er gehört zu dieser Welt, die ihn: Gesetz
geworden ist nnd Heimat.

Inr Stande der Furcht fühlen wir uns namenlos beglückt vom W>esen
derer, die so geworden sind. Zuweilen wissen wir von vollkommenem und
hohem Menschentum nichts Höheres auszusagen als dies: alle Furcht liegt
hinter ihm. Und Hoffnung >durchdringt uns in seinem Anblick, daß einst
dieses Wort über das ganze menschliche Geschlecht gesprochen werde.

Wolfgang Schumann

Debattier-Technik und die Kunst, recht zu behalten

i.

In Goethes Tasso sagt Eleonore von Este:

„Ich höre gern dem Streit der Klugen zn,

Wenn um die Kräfte, die des Menschen Brust
So freundlich und so fürchterlich bewegen,

Mit Grazie die Rednerlippe spielt."

Es ist unverkennbar: hier spricht eine rein ästhetisch orientierte Zuhörerin,
die nicht sowohl am Inhalt, als an Art und Form und dem psychologischen
Reiz eines dialektischen Kampfes zwischen geistvollen Gegnern interessiert ist.
Ästheten dieserArt genießen einen Streit wie das Schauspiel eines wirklichen
Turniers;sie fragen nicht nach dem Zweck des Kampses, nicht darnach, ob der
oder jener eine gute Sache vertritt, der der Sieg zu wünschen wäre,- sie wollen
sich nur an der Kraft und Gewandtheit und den Fechterkünsten der Kämpfeio-
den ergötzen. Aber ein solcher Standpunkt kann nur selten festgehalten wer--
den,- nicht nur weil Streitigkeiten zwischen erlesenen Geistern, die ritterlich
die geistigen Degen kreuzen und deren „Lippe mit Grazie spielt", nicht gerade
alltägliche Schauspiele sind; sondern weil es meist unmöglich ist, Redekämpfe
als bloßes Spiel zu betrachten. Zumal wer ethisch eingestellt ist, und wem
es auf den Sieg von Recht und Wahrheit ankommt, dem werden wohl die
allermeisten Debatten einen peinliHen Eindruck hinterlassen. Es empört,
immer wieder zu sehn, daß Rechthaben und Rechtbehalten nicht gleich,--
bedeutend sind; daß nicht der als Sieger aus einem Streit hervorgeht, auf
dessen Seite Wahrheit und Recht steht, sondern der, der am schlagfertigsten
ist und am geschicktesten zu fechten weiß. Pathos und Brustton der Äberzeu--
gung, Witz und Ironie, apodiktisches Auftreten und das Ausspielen einer
autoritativen Stellung triumphieren über Scharfsinn und Wissen. lind wie
oft wird der Feinsinnige, Ehrliche, Bedenkliche durch den brutalen und skrupel--
losen Schreier dialektisch vergewaltigt! Viele gehen resigniert einem Disput
aus dem Wege:

Ich bitte dich, und schone meine Lunge —

Wer recht behalten will und hat nur eine Zunge,
 
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