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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1922)
DOI Artikel:
Müller-Würdenhain, Karl ...: Die Sehnsucht nach der Volkskirche, [4]: die Kirche und die Seinsformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0167

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Die SehnsuchL nach der Volkskirche

3. Die Kirche und die Seinsformen
(Schluß)

Das kirchliche Mißverständuis war nicht das einzige, das dieser ab»
soluten religiösen Exklusivität widersuhr. Darum muß diese nun
näher bezeichnet werden in ihrer unverwischbaren Gegensätzlichkeit zu
jedem harmonistischen Willen.

Wer eine Volkskirche will, ein Gefäß, das all unsre Geistigkeit bejahe,
umschließe und trage, muß entsprechende volkstümliche Sitten und Formen
wünschen, wie jede Religion sie schus, wenn sie einmal volkstümlich war.
Das Weihnachtsfest ist eins der besten Beispiele; aber auch die Volkslieder,
nicht nur die geistlichen und andere andächtige Bräuche gehören hierher.
Nnd es ist kein Zufall, daß die lebensreformerischen Kreise, denen an der
Wiedergewinnung der Einheit volkstümlicher Kultur liegt, nach diesen
Schätzen greifen. Wer ein volkstümliches Gefäß des inneren Lebens einer
Volkheit ersehnt, muß solche Teilformen fördern. Dann kommt er aber
in Gefahr, das Religiöse ungebührlich in die Geruhigkeit, Fühlsamkeit
und Vermischtheit des Daseins hineinzuziehen. All jene volkstümlichen
Formen haben die unselige Neigung, das ungeklärte Leben als solches zu
sanktionieren, statt sein kritisches Ferment, seine Unruhe zu sein. Sie
prachen das Religiöse zum Schmuck des Daseins, statt zu dem König, vor
dem „das große Weltgewichte schrickt und scheut", auch das beste Mensch-
liche erblaßt und jubelt zugleich; statt zu dem Quell, aus dem es mit
demselben Schlucke sich Tod und Leben trinkt.

Das Religiöse ist ja das „Ganz Andere"; Quell aller Regel und doch
der eben geformten spottend; die eben ehrfürchtig gefundene in reichem
Mutwillen zertrümmernd, erlaubt es dem Leben des Ergriffenen nicht,
sich auf irgendeine bewährte Norm zu verlassen, als auf es selbst, auf das
Anfaßbare; erlaubt nicht, etwas „schwarz auf weiß getrost nach Hause
zu tragen". Es ist die Anruhe selber; gerade wegen seiner ewigen Wan-
dellosigkeit zersprengt es jede endliche Figur, die für sich selbst Bestand
gewinnen will in dem Fließen, dessen Welle sie zu sein hat. Es ist
klar, daß das Religiöse in dieser seiner Eigenart so unvolkstümlich wie
möglich ist. Rnd Zeiten, in denen das Religiöse volkstümlich wurde,
mögen daher für die Kultur förderlicher gewesen sein, als für den ewigen
Fremdling. Denn wo das Volk sich seiner auf seine Art bemächtigte, hat
es dies Springkebendige zuvor seiner jähen Gefährlichkeit beraubt, ihm
die himmlischen Sehnen durchschnitten, ihm die gewaltigsten Zähne aus-
gebrochen, hat zähmende, erniedrigende Zügel und Gewänderchen der
schöpferischen Argewalt anlegen müssen, um nur mit ihr leben zu.können.
Es ist die Tragödie, daß das Religiöse zwar nach soziologischer Ent-
faltung verlangt und drängt, daß es aber bei dieser Entfaltung sein
Wesentliches zu verlieren pflegt, da es auch gegenüber den Zwecken der
soziologischen Phänomene das „Ganz Andere" bleibt. Drum waren die
religiösen Genien, in denen jene Argewalt unmittelbar emporbrach, stets
Kämpfer, in unauslöschlichem Streite mit der Volksreligion. Die jüdische
Religionsgeschichte und ihr Prophetismus ist das klassische Beispiel; auch
Iesus macht da keine Ausnahme; auch er trägt in sich den Gegensatz nicht
etwa nur gegen das Iüdische, sondern gegen das Menschlich-Abliche und
„Natürliche".
 
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