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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

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Heft 9 (Juniheft 1922)
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Müller-Würdenhain, Karl ...: Die Sehnsucht nach der Volkskirche, [4]: die Kirche und die Seinsformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0168

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Gerade in einzelnen ganz modernen Menschen bricht sich dies Gefnhl
wieder kraftvoll Bahn, daß das ungebrochen-Religiöse nicht einfach ein
— wenn auch noch so wichtiger — Bestandteil des Lebensgepäcks mit seinen
Utensilien für den Lebensweg und den Daseinskampf werden darf. Es
erwacht ein Blick sür das Anwürdige und Komische dieser Rolle, da dann
das Unfaßbare doch dem einsamen Fettauge auf der mageren Brühe der
Gesinnungen gleicht, dem Greis auf dem Dache, der in dem banalen
Spottlied sich der großen Wasserflut „nicht zu helfen weiß". Daher hat
der religiöse Mensch von heute diese tiefe Abneigung gegen religiöse tzaus-
sitten. Es ist das unbestimmte Gefühl, daß die Wirklichkeit der Religion
etwas anderes sein müßte, als Lieder singen, heilige Dinge vorlesen und
fromme Worte beten, und daß vollends die Ruhe, mit der so etwas Sitte
werden kann, jenen Urmächten ganz und gar nicht entspricht, ja sie gerade
verscheuchen und betäuben müsse. Daher bekennt schon Eckehard, daß
die „abgeschiedene" Seele, d. h. die ganz des Ungeheuren inne geworden,
„nicht bete", jenseits jeder Frömmigkeitsübung und -stimmung stehe. Das
„Ganz Andere'^ macht sich geltend, das Inkommensurable. Wir ahnen,
daß all jene Äbungen der Versuch waren, sich gegen das Allgewaltige hinter
seine eigenen Worte zu verschanzen und hinter unsere Stimmungen und
Andächte. Gegen diese sind wir ja so mißtrauisch geworden, weil es uns
aufgeht, daß das, worum es sich handelt, noch etwas ganz anderes ist, als
unsere Gefühlsregungen und Verhaltungsweisen, als alle Andacht und
Liebe, alles Menschliche und Menschenmögliche, das vielmehr eher des
linmittelbaren Totenmaske ist. Dieses Gefühl, daß all unser bestes Denken
und Beten und Tun und Frommsein doch stets fast das Gegenteil des Ge-
meinten bleibt, ist die Kehrseite der vorhin beschriebenen Gewißheit, daß
für das Absolute keine bestimmte Form die notwendige oder einzig zu-
treffende sei. Das Religiöse ist uns das ewig sich selber Ungenügende, das-
jenige „Ienseits", für das die Frage nach dem Unterschiede von Tran-
szendenz und Immanenz gegenstandslos und wesenlos wird. Es ist vor
allem, um einen Namen zu nennen, Friedrich Gogarten, der darauf
wieder hinweist.

Das ist kein Rückfall, so gewiß sich hier Lebensgefühle wiederholen, die
z. B. im nachexilischen Iudentume auftauchten, wenngleich in ganz an-
deren Ausdrucksformen. Auch Iesus und den Apokalyptikern (Offen-
barung Iohannis) ist dieses Gefühl schneidendster Gegensätzlichkeit von
Gott und Welt nicht fremd. In der Tat verlernen wir die naive Gleich-
setzung von menschlichem und göttlichem Betverten. Wir empfinden die
Nötigung, neben die anbetende Ahnung des alles durchdringenden Gött-
lichen die andere zu stellen, daß das Göttliche dennoch zugleich weltenfern
erhoben, allen zusälligen, gemachten, gewußten unendlich entrückt und
entgegengesetzt ist. Nnsere Ausdrucksform sür das tzöchste ist nicht mehr
die rationale Gleichnung; an.ihre Stelle tritt wieder die Paradoxie. Dies
Spannungsgefühl der religiösen (nicht der kirchlichen) Exklu-
sivität ist der eigentliche Kraftquell einer religiösen Bewegung. Alle
wirklich elementaren Ereignisse der Religionsgeschichte quellen aus ih m.
Diese Exklusivität muß im Verein mit der entgegengesetzten Vorstellung
der völligen „In-eins-Schau" von Göttlichem und allem noch so geringen
und verkehrten Menschlichen das paradoxe Spannungssystem bilden, um
das das religiöse Leben schwingt. Diese religiöse Exklusivität ist es,
die von der kirchlichen gemeint, aber verfehlt wird. Nm ihretwillen stellt
 
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