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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

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Heft 9 (Juniheft 1922)
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Troeltsch, Ernst: Die neue Weltlage: Berliner Brief
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0191

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sammen ausgeübt wird, und macht insofern eine deutsche „Weltpolitik" und
Mitbeteiligung an der Seeherrschaft unmöglich. Das hat der Krieg gelehrt
und verlangt von uns eine schmerzliche Resignation. Aber innerhalb
dieser Lage könnten wir doch wieder zu einer kräftigen nationalen Politik
gelangen, die sich ihren Anteil an der wirtschaftlichen Weltsolidarität
sichert und den nationalen Bestand wieder vereinigt, der uns heute geraubt
ist. An das Evangelium des Ostens dagegen vermag ich nicht zu glauben,
und die Persönlichkeit des tzerrn Radek zum mindesten wirkt nicht sehr
überzeugend. Der „Westen", gegen den er und verwandte Geister kämpfen
wollen, ist keine Einheit. Das sranzösische und das angelsächsische System
sind total verschieden. Den Kampf gegen beide zugleich zu führen, hat
keinen Sinn. Mit dem englischen System kann man leben, mit dem fran-
zösischen nicht. Daraus ergibt sich meines Ermessens für uns die grund-
sätzliche Stellungnahme. Wie freilich die französische Last Europa wieder
vom Halse geschafft werden kann, ist eine Frage für sich. Durch die heu-
tigen russischen Ideen wird es schwerlich geschehen können. Denn da ist
ein politisches und ein wirtschaftlich-sozial-theoretisches Problem verkoppelt,
die ganz unmöglich beide zusammen und eines durch das andere gelöst wer-
den können. Die Wege einer Lösung, wenn es überhaupt eine solche gibt,
werden andere sein. Welche?, das ist meiner Meinung nach heute über-
haupt noch nicht zu sagen. Schließlich wird es ja wohl auch in Frankreich
selbst innere Entwicklungen geben, die gegen die auch auf Frankreich
drückende Last seines Imperialismus sich wenden. Aber alles das wird
vermutlich überaus langsam gehen.

Berlin, P. Mai B22 Ernst Troeltsch

Vom tzeute fürs Morgen

Besonnenheit oder Draufgängerei?

eht es in die Schlacht, ist man im
Kriege, so mag das als Frage gel-
ten. Ist aber ein Volk durch Äbermacht
oder sonstwie unterlcgcn und muß es
seine Kräfte sammeln, um wieder stark
zu werden, kann es dann für irgendwie
ernsthaft und ehrlich Denkende eine
Frage sein, ob man besonnen zu arbei-
ten habe oder mit einem roten Kopfe
draufgängerisch? Wir sind ja darin
auch alle „theoretisch" eins: wir Deut-
schen von rechts und links müssen uns
so weit verbünden, müssen auf so viele
Ziele hin gemeinsam arbeiten, wie das
nur menschenmöglich ist. Was wäre
Vorbedingung dazu? Nicht etwa, daß
wir unsre vcrschiedenen Meinungen,
unsre vielleicht entgegengesetzten Ab-
sichten friedemeierisch verheimlichen,
zum mindcsten nicht bekämpfen. Son-
dern: daß wir ein Besprechen und Be-
kämpfen unsrer abweichenden Mei-
nungen gerade ermöglichen, wo das

di e Sache will, aber ohne dadurch die
Verbündung für gemeinsame Absich-
ten zu gefährden. Mit einem Schlag-
wort: daß wir unsre inneren Kämpfe
zu entgiften streben. Ohne Schlag-
wort: daß wir wenigstens in dieser Zeit
der schweren Not das Fühlen der
andersgerichteten Mitdeutschen zu b e -
greifen suchen. Es scheint aber bei
Gott, als wenn es sür uns überhaupt
nichts Schwierigeres gäbe, als das, was
der klügste Kopf, der größte Soldat,
der mutigste Mensch unter den Königen
unsres Volks auf die einfache Formel
gebracht hat: jeder dars nach seiner
Faxon selig werden. Monarchismus,
Republikanismus, Sozialismus, Kom-
munismus — jeder „Ismus" stimmt
seine Anhänger zu diesem oder jenem
Glauben, der dcm Andersgläubigen
„gegen den Strich" geht, und zu dieser
und jencr Wertschätzung auch von „Be°
kennern", die infolgedessen der eine
ehrt und der andere nicht leiden mag.

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