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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1922)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Das Unerschöpfliche
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0219

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Das Anerschöpfliche

^L^indheit ahnt nicht, daß die Welt erschöpfbar ist. Sie rafft, sie
V^trinkt tn vollen Zügen. Mit jedem Schritt — und die Schritte
^^der Kindheit sind die größten unseres Lebens — gewinnt sie nnend-
liche Räume, und doch dehnt sich vor ihrem Auge noch immer das Unend-
liche. Sie kennt nicht Wahl noch Maß. Des Schmetterlings Flug und des
Droschkengauls abendliches Nicken, Gestirnwelt und Gespielenschaft, tzeimat
und Indianerwälder, Puppenspiel und Dienstbotendasein, Eisscholle am
Strom und lustiger Kindervers, alles ist ihr willkommen, alles nimmt
sie an, auf, in sich und erobert in allem die Welt.

Iugend beginnt zu wählen. Ganze Welt-Teile scheiden aus dem Blick-
feld ihrer Teilnahme langsam aus. Der fühlt, daß „Geschichte" ihm nichts
sagt, jener, daß „Technik" ihm nichts bedeutet; eine bemerkt, daß Kunst
sie nicht fesselt, eine andre, daß Wissenschaft ihr fremd bleibt; Religionen,
ja Religion wird überwunden, Arbeit erspürt als Zwang, die einst Spiel
war. Doch noch immer ist die Welt unerschöpft; leise Ahnung mahnt, daß es
Zeit ist, sich zu sammeln und feste Richtung zu nehmen, den Teil für das
Ganze zu erwählen, seltene Besinnung sagt, daß die Bahn ein Ende haben
möchte dereinst; doch Ahnung und Besinnung verklingen im Chor der
inneren Kräfte, die Liebekräfte sind. Liebe erneuert den Schwung der
Schritte, umfaßt die Welt als beseligenden Kosmos, als Feld großer Taten,
als Problem, als unendliche Wahrheit und wahre Unendlichkeit; sie ent-
zündet das Denken, entflammt den Tatwillen, erzwingt Hingabe, Ver-
senkung, Eingehen ins All. Der kindlich-leichte Schritt mit staunendem
Auge ist gewandelt in das suchende Erschreiten der Tiefe, des Sinns, des
Zusammenhangs. Was bunte Fülle war, ist zur wirren Vielheit geworden;
zur Lust hat sich Schmerz gesellt, zum Gefühl des täglichen Gewinns die
Ahnung der Unerzwingbarkeit, zur frohen Vertrautheit der Schauer erster
Vereinsamung.

Iuliheft ,922 (XXXV, ;o)

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