Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1922)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Antriebe des Daseins
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: zu seinem 100. Todestag am 22. Juni
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0151

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
was ist seine Spur? Krankheit und Schwäche. Ein hungerndes Kind —
unser Herz will brechen, wenn wir es erschauen. Aber nicht allein, weil
es hungert, schuldlos, sinnlos dem grausamsten der DLmonen in die
Krallen gelegt ist. Wir heben den Blick in die Zukunft und sehen die
Menschlichkeit des Kindes vernichtet. Wer hart zu denken vermag, kann
sich sagen: seelisch unglückliche Iugend ist kein Unglück, sie kann min-
destens starke Charaktere hervortreiben; Krankheit der Iugend kann über-
wunden werden; frühe Dürftigkeit kann späte Bedürfnislosigkeit erzeugen.
Hungernde Iugend aber heißt: verkümmertes Manntum, verkümmertes
Weibtum, verkrüppelter Erwachsenenkörper, verkrümmte Seele — n.ie zu
heilen. Vergeßt es nicht, wenn ihr mit Erwachsenen umgeht — vielleicht
haben sie gehungert.

And vergeßt es nicht, wenn ein 'kleiner Mangel euch heute trifft und ihr
alsbald in Arger und Zorn ausbrecht: dies ist, am kleinen Beispiel eines
Ichs gesehen, dieselbe Mechanik, mit der Hunger Weltkriege hervorbringt
und darin sich selber ins Aberwitzige vergrößert, der bluterstarrende Er-
zeuger seiner selbst. Und vergessen wir zuletzt die Hoffnung nicht. Arbeit
und Gedanke sind die Waffen. Auch das Feuer war einst der Feind der
Menschheit, bis Arbeit und Gedanke es zwangen und der Geist sprach: Sei
ruhig, freundlich Element. WolfgangSchumann

Ernst Theodor Amadeus Hoffrnann

Zu seinem 100. Todestag am 22. Iuni

^^^ie Gegenwart ist vielleicht für keinen Romantiker empfänglicher als
^-F^für Hoffmann. Er hat die Romantik auf die Spitze getrieben und
damit ihre Grenzen dargetan, sie als Prinzip „erschöpft". Er steht
am Anfang einer neuen Kunst, welche alle die in vielen Iahrhunderten
gereiften Früchte deutscher Dichtung ernten will, und strebt so eine
Aniversalität künstlerischer Erlebnis- und Formungsmöglichkeiten an, nach
der auch wir ringen. Und auch das Menschentum dieses späten Roman-
tikers ist dem unsern irgendwie verwandt, auch wir fliehen oftmals vor uns
selbst; auch viele unserer Dichter wagen die Fahrt ohne Steuer und lassen
sich, ermüdet, entnervt, von den Fluten treiben. Rnd weiter: die „ge°
brochene Linie", in der sich der Romantiker überhaupt vorwärts bewegt,
wird bei Hoffmanu und beim Dichter unserer Zeit zum Leidensweg ohne
erkannte Richtung und geglaubtes Ziel, denn hier ist der Mensch das
Maß aller Dinge und nimmt jedes Stück Weges aus Kraft oder Iln-
kraft seines Innern allein, ohne daß es von irgendeiner höheren Instanz
zuvor Bestätigung empfänge. Fast immer führte dieser Weg in Nacht und
Verzweiflung. Diese Tragödie des romantischen Charakters spricht Eichen-
dorff einmal aus: „Es gibt nur wenige Dichter in der Welt, und von den
wenigen kaum einer steigt unversehrt in diese märchenhaft prächtige Zauber-
nacht." Man gönnte jeder Regung der Seele Raum und jeder Begier des
Leibes, um das Leben voll zu erschöpfen. Novalis' Tagebuch spricht von
„Enthusiasmus für Krankheit und Schmerzen". Durch bürgerliche Ein-
engung von Iahrhunderten war der Boden bereitet für die seelischen
Exzesse eines ganzen Geschlechtes innerlich reicher aber disziplinloser Künst-
ler. Die politisch „reaktionäre" Romantik ist die geistige Begleiterin der
französischen Revolution und uichts als die ins Neligiöse vertiefte Sturm-
und Drangdichtung. Erhabenes und Niedriges mischt sich, scheinbar un-
 
Annotationen