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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI issue:
Heft 9 (Juniheft 1922)
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Schumann, Wolfgang: Antriebe des Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0150

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So alt wie er sind seine Gegenmächte: Arbeit und Gedanke. Denn nicht
die Gewalt überwindet ihn, die den Bruder, den Nachbarn, das andere
Volk, den andern Erdteil zwingt, mich, uns zu ernähren. Sie schiebt ihn
nur auf der Erdkarte herum. Arbeit aber überwindet ihn; wiederum nicht
Arbeit allein, denn es gibt hungernde Sklaven und hungernde Arbeit-
völker. Erst die Arbeit, deren ordnendes und zielgebendes Prinzip der
Kampf gegen den Hunger ist. Wir kennen Landstriche, Länder, Reiche,
die zeitweilig, generationenlang des Hungers vergessen durften. Geordnete
Arbeit, Arbeit in Ordnung war ihr Kennzeichen. Aus dem Begreifen
dieses keimt die Hoffnung, daß geordnete Arbeit, Arbeit und Gedanke den
Hunger „endgültig" überwinden könnten. Daß er vom Erdboden, der
überreichlich Frucht zu tragen so maßlos bereit ist, schwinden könnte auf
Nimmerwiedersehen. Ilnd, beflügelt, trägt die Hoffnung kühne Köpfe in
Erdperioden einer Zukunft, für die Hunger ein wüster Traum vergangener
Menschheitmächte sein wird wie für uns das Elend der über den Boden
Hingierenden Anthropoidenhorden.

Nicht ohne Erschauern mögen wir dies denken: gerade die Gewalt,
die von allen vielleicht die unabweisbarste sein mag, die gewiß im Augen--
blick ihrer Gipfelung die zwingendste und härteste ist, gerade diese er-
scheint kühnerem und freierem Denken als die einzige, die vielleicht zu über-
winden, jedenfalls herabzumindern ist auf die segenreiche Grundkraft,
welche die tüchtigsten und besten Kräfte entfalteter Menschlichkeit in Be-
wegung setzt, ohne sie anzukränkeln. Wer Spekulationen zuneigt, wird
sagen: begreiflich, dsnn Hunger ist ein für alle Mal nicht am Grunde des
Ewigen, der Seele, verankert, sondern am Grunde des Zeitlichen, unseres
Leibes.

Genug, — daß er der unabweisbarste aller Dämonen des Lebens ist,
bleibt dennoch gewiß. Vom Individuum und auf das Individuum gesehen,
bedroht er es mit der bittersten Strafe, mit dem Tode. Nicht, daß etwa
er allein den Tod im Köcher hätte. Auch Liebe, ist sie voll entfesselt, auch!
Wissensdrang, ist er wahrhaft unersättlich, führen die Todesdrohung mit
sich. Aber sie vollstrecken sie selten, sie gewähren längere Fristen, und
sie reichen den Todesbecher entweder dem frei ihn Wollenden oder dem
schon erschöpft-ülmnachteten. Sie sind milder, sind süßer. Ihr Tod ist
der Tod als Erlöser, Hunger aber sendet den Tod als Würger. Ihr Tod
ist sinnerfüllt. Hungertod aber ist sinnlose Pein, von keiner Philosophie,
von keinem Seelenerlebnis umklungen. Und er vollzieht sein Urteil rasch,
dieser höchst wütende Scherge. Kaum hat er gedroht, kaum den Leib er-
griffen, so schleicht schon Kälte heran, krankt schon Organ und krankt
bald darauf Seele und Geist. Wahnsinn, Verbrechenstollheit und Aus-
bruch grausiger Wildheit sind die rasch wieder welkenden Vorboten der Er-
mattung, in deren eisigem Elend der Hungsrnde den letzten Atem verhaucht.

Wir wußten auch dies nicht mehr. And wissen auch dies heute. In
dem Orkan, der aus Rußland tönt, grellen die Schreie der Leichsnfresser,
Mutter- und Vatermörder und Selbstverstümmler, der Arintrinker und in
Irrsinn sich Mordenden.

Das „Sinnlose" und das „Nnnötige" des Hungers ist es, was ihn un-
serem Denken verhaßt macht. Die ewige Erinnerung an irdische Unzu-
länglichkeit. Er müßte nicht sein, er sollte, er dürfte nicht sein. Von allen
dämonischen Gewalten ist er, sobald er über das Maß unverlierbaren
Lebensdrangs wächst, die schenßlichste und die unfruchtbarste zustleich. Denp
 
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