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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1922)
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Schumann, Wolfgang: Antriebe des Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0149

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Formel, die ein Schlüsselwort bringt, alle Formeln, welche deren meh-
rere enthalten. Wille wäre danach das Eine, das Oberste, das die Zwei,
die rangniedrigeren Teiltriebe umfaßt. Richtig oder falsch — wenn voll-
kommene Einsicht durch eine Formel zu gewinnen ist, so werden wir alle
die ein-fachste, die ein-wortige vorziehen. Glauben wir aber an eine solche
nicht, so bleibt uns nur der Ausweg, die eisige Berghöhe zu verlassen, wo
alles Leben in eines einzigen Wortes Bild schaubar sein mag, und uns mit
unserem Erkenntniswillen anzusiedeln in geringerer Höhenlage,- dort, wo die
Fülle der Welt schon nach mehr als einem Abbild, nach mehr als einer
Formel, nach mehr als einem Leitwort schreit, wenn wir sie ganz damit
umfassen wollen. Und dann genügen für das Menschliche nicht zwei
Worte, nicht die Formel „Hunger und Liebe"! Dann, aus der Höhenlage,
aus der Schiller schaute, schauen wir wirkend und wesend, neben Hunger und
Liebe noch weitmehr ihnen nahezu oder ganz gleichwertige und gleich geord-
neteAntriebe. Von deren stärksten sollen die folgendenBetrachtungen handeln.

tzunger

^runger ist uraltes Lrbteil. Die Völker vergessen ihn zuweilen, wie man
^)das Atmen „vergißt". Sie wissen im Äberfluß nicht, daß er am Grunde
lauert wie vor hunderttausend Iahren. So wie sie nicht wissen, daß er
einstmals die gewaltigste Macht im Menschlichen war, als kaum geeinte
Horden über den unbestellten Boden zogen, keine Stunde des Lebens ge°
widmet einem reinen Gefühl, keine Stunde einer stillen Besinnung, von
der Geburt bis zum Tode unterworsen bis zum Mord und zur grausen-
vollsten Feindschaft der härtesten Befehlsgewalt des einen Herrschers:
des Hungers. Sie wissen nicht, daß das zeugende Leben in zähem Kampf
liegt mit ihm, daß aus Milliarden Keimen allstündlich Leben geboren wird,
welches leben will, welches — hungert; daß dieser Hunger immer wieder
die Nahrungmasse der Erde überwächst und dann, bleibt er wirklich ohne
Nahrung, insgeheim jene furchtbaren Konflikte vorbereitet, die wir als
Kriege, Bürgerkriege, Klassenkriege, Bruderkriege kennen. Sie wissen es
nicht, bis er plötzlich zu dämonischer Riesengröße sich aufreckt, die Geißel
schwingt und die Leiber und Seelen zerpeitscht.

Wir von heute wissen es. Aus der „Tiefe" proletarischer und unter-
proletarischer Schichten war sein Ruf seit je erklungen — und verklungen.
Plötzlich schwoll er, als die Grenzen sich schlossen, an; sein Schrei wurde
in vier Iahren zum grellen Sturmgetöse, und aus Rußland brüllt er heute
mit Orkanesgewalt. Wir haben ihn gehört; haben ihn gesehen; haben ihn
erlebt. Auch die einst im Äberfluß standen. Nnd die sich vor ihm retten
konnten, retten können — wer ist frei von Furcht vor ihm? wer sagt: ich
habe genug? wer sorgt nicht um morgen und übermorgen? S o lernten
ihn Millionen kennen, die ihn vielleicht nicht erlebten, kaum sahen noch
hörten. Nnd begreifen jetzt die Mechanik, die Apparatur, die Maschinerie
aus Körperlichem und Seelischem, deren er sich bedient. Denn er braucht
nicht den würgenden Zugriff in Gedärm und Kehle, um seine Herrschaft
dennoch zu üben. Er kann sich darauf verlassen: die ihn nicht kennen,
die fürchten ihn doch. Mit den Hebeln der Furcht, der Angst, der Sorge,
des unersättlichen Begehrens nach Sicherheit hält er die Menschen in Bann
und Bewegung. Worum ging es in Versailles, in London, in Spa, in
Genua? um vieles, aber auch darum: wer soll hungern, sie oder wir? und
nicht unter dem Druck des Hungers, sondern unter dem der Furcht handeln
die Händler dieser Konferenzen.

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