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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

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Heft 7 (Aprilheft 1922)
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Troeltsch, Ernst: Die intimen Seiten der deutschen Lage
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0045

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und sich mit den betreffenden Versailler Bestimmungen befriedigt erklären,
nehmen in Genua nicht teil, weil die Hauptsache nicht verhandelt werde.
Man sieht: es geht, wenn überhaupt, sehr, sehr langsam vorwärts. Der
französische Imperialismus ist der große Block, der im Wege liegt und
der jede Sanierung unmöglich macht. Was wird sein Schicksal sein?
Er muß irgendwann einmal zusammenbrechen. Aber was werden wir
vorher noch alles zu ertragen haben an Schmach und Demütigung wie
an Not und Sorge? Es ist nicht wahrscheinlich, daß auch die genaueste
Kenntnis der Franzosen von der deutschen Lage sie von ihren tzoffnungen
und ihrem Imperialismus abbringt, der die ganze alte Welt der skrupel-
losesten Machtpolitik mit all ihren Ideologien wieder heraufbringt und
vor allem uns äußerlich und innerlich hindert, die troh allem neuen
Weltverhältnisse zu sehen, zu empfinden und zu bejahen und zu benützen.

Die heutige Welt ist trotz aller großen Programme absolut zwiespältig
und verlogen. Daher ist es auch so schwer für unsere Nation, geistig und
gefühlsmäßig einen klaren Weg durch das Wirrsal zu finden. Sie ist
zu schwach, um vorangehen zu können, und die Welt draußen ist zu ver-
worren und zu verlogen, als daß man irgendetwas in ihr bejahen und
einem ihrer Programme folgen könnte.

Berlin, ls. März 1922 Ernst Troeltsch

Vom tzeute fürs Morgen

Rückständigkeit

anche fromme Menschen stellen
sich Eott wie einen tzerrscher vor,
in dessen Reich alles beim Alten bleibt.
Aber da er immer wieder Nenes herauf-
führt und Veraltetes zerfallen läht, stim-
men ihre Meinungen selten oder nie
mit der Wirklichkeit überein. Gott steht
nicht still, sondern er wandert. Darum
bleiben die Menschen, die gerade nicht
wandern, sondern still stehen wollen,
hinter der lebendigen Geschichte zurück,
und so werden sie, wie man ganz be-
zeichnend sagt, rückständig. Es ist nur
allzu bekannt, wie sich die Rückständig-
keit religiös zu rechtfertigen und zu
verbrämen sucht. In Zeiten, wie wir
sie jetzt erleben, wo Gott sozusagen in
Niesenschritten ausschreitet, findet sich
niemand schwerer zurecht als die Ver-
treter der frommen Rückständigkeit. Es
ist die Tragik der großen Wendezeiten,
daß in ihnen die „Frommen" nicht
mitkommen und mehr oder weniger ver-
sagen. Da wiederholt sich dann die
im Evangelium erzählte G-schichte, dag
die zuerst Geladencn nicht kommen und
der König seine Gäste von den Zäunen
und Straßenecken herbeiholt. Gewiß,
es ist nicht immer ganz klar, in welcher

Richtung das wahre Vorwärts der Ge-
schichte liegt. Aber wenn wir die Feuer-
säule Gottes einmal in Bewegung er-
blickt haben, dann muß unser heiliger
Ehrgeiz darauf gerichtet sein, nahe bei
ihr zu wandern. Lhristian Geyer

Eine Kerzenstunde!

an schreibt uns: „Unser Tag
gleicht einer Kartothek, deren ein-
zelne Schubfächer in rascher, bunter
Folge geöffnet und wieder geschlossen
werden. Ein rascher Wechsel rasch sich
verflüchtender Eindrücke mit keinem
Höhe- und vor allem mit keinem echten
Ruhepunkt. Noch beim Essen hämmert
der Rhythmus des Tagewerks in uns
nach und dasselbe kalte mechanische
Glühlampenlicht brennt in unsere.
Augen, erschüttert unsere Nerven. Und
doch gibt es Wege, auf denen man auf
kurze Stunden oder doch Minuten der
ganzen groben Welt unseres Daseins
entrinnen kann. Ich behaupte, daß
dazu ein oder zwei Kerzen unter Um-
ständen schon genügen. Wenn ich die
Sehnsucht habe, für mich zu sein, so
schließe ich meine Vorhänge, drehe das
Licht ab und zünde mir ein Paar Ker-
zen an, die den Raum in einen wei-
 
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