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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1922)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Das Unerschöpfliche
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0220

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Reife, soweit sie denn gegeben ist, schaut die Grenzen und Mauern.
Sie weiß, daß nichts restlos gewonnen wird, nicht das All, nicht der Teil.
Daß aller Vorschritt der Kindheit, aller Vorsturm der Ingend nicht erzwang,
was frühe Hoffnung erträumte. Daß aller Eroberung Schranken gesetzt sind;
daß nie die Ruhe des Besitzes uns befriedet, nie unser tzerzschlag Herzschlag der
Welt wird. Sie weiß mehr! Daß mit dem süßen und prickelnden Reiz der
Neüheit jedes Geschehens, jedes Dings, jedes Tuns die Lust schwindet, durch
täglich erneuerte Anstrengung an das stille Ufer horizontloser Schau zu ge--
langen. Daß wachsende Einsicht in die unbezwingbare nUendlichkeit der
Welt die Kraft und Hoffnung ankränkelt, sie als vertraute Heimat endgültig
zu erobern. Sie weiß Tieseres! Daß die Fröste der Vereinsamung kommen
werden nach den Tagen erhitzten Bemühens, daß schon erobertes Land zurück«
weichen wird in das Meer der Fremdheit, daß nicht an sich, doch für uns
erschöpfbar ist, was immer wir beginnen und ergreifen.

Aud abermals beginnt — ist Liebe nicht erstorben, Iugendlichkeit nicht
verloren, Erstarrung noch nicht eingetreten — Wahl und Suche. Sie be--
ginnt mit Besinnung. Was war gegeben an Möglichkeiten? was davon
ward durchschritten und durchlebt? Wir überschauen die Wege, die uns
zu Sicherheit, Ruhe, Äberschau, zur Welt als Heimat führen sollten.

Arbeit verhieß stetes Wachsen, unahnbares Sich^-Entfalten der Kräfte,
verhieß mit äußerer Sicherung innere Zufriedenheit, und wo sie auch an^-
setzte, ihr Weg, mit fühlsamer Klugheit begangen, versprach im kleinsten
Werk den Sinn des großen Schöpferwerks zu erschließen. Ein Versinken
in Arbeit schien möglich, aus dem es vor der letzten Stunde kein Erwachen
gab. Doch es kam anders. Alle Arbeit mechanisiert sich, die nicht rein
schöpferisch ist. "Verwälten oder Brückenbauen, Geschäfte machen oder
Schauspielen, Kranke heilen oder Vergangenheit erforschen — allmählich
begreifen wir allzu gut auf jedem Felde die Handgriffe und Praktiken,
die Stadien und Rhythmen, die täglichen, wöchentlichen, jährlichen Einerlei--
heiten der Arbeit, und mit dem Sinken der tzofsnung, daß sie ins Herz
der Welt leite, wird sie schal und alltäglich, wird sie Gewohnheit statt
geliebter Aufgabe, ersülltes Zwang-Gebot statt täglich ersehnter Entfaltung.
Einzelne mögen versinken in ihr — aus tiefster Anlage ihres Wesens
oder aus bloßer Ennattrmg —, dem heißesten Drang, das Bleibende iu ihr
zu finden, genügt sie nimmer. Sie ist erschöpfbar.

Wissenschaft verhieß unendlichen Reichtum. Mit der Schärfe des Den--
kens schien die Welt ergründbar. Dieser Schlüssel schien alle Tore zu
öfsnen. Äberall bot schon erarbeitete Erkenntnis sich an, uns weite Tage--
reisen hineinzuführen in die Länder und Meere des Alls. Metallene
Charaktere sprachen aus Statuen und Werken der Gelehrten zu uns von
dem menschlichen Gewinn, der uns erwartete im entsagenden und uner--
müdlichen Dienst des Wissensdrangs. Unzählige Iahre schienen vergehen
zu sollen, ehe wir nur dem nachgedacht, nur das erfaßt hätten, was ältere
Geschlechter schon erarbeitet hatten, unzählige Iahre dehnten sich hinter
ihnen, in denen wir das Aberlieferte sichten und richten, klären und mehren
würden. Ein Versinken in Wissenschaft schien möglich, aus dem kein Er--
wachen je notwendig werden könne. Doch es kam anders. Auch hier
grifs die ausgestreckte Hand auf felsene Mauern und riß sich blutig. AuH
in diesem Reich erfaßte der schweifende Geist die Begrenztheit seines Tuns.
Auch hier erstarrte lehendiger Wille zu pslichtmäßiger Weiterführung einer
begonnenen Arbeit; auch hier begriffen wir mit der Mechanik unseres
 
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