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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1922)
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Müller-Würdenhain, Karl ...: Die Sehnsucht nach der Volkskirche, [4]: die Kirche und die Seinsformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0169

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die Kirche das religiöse System neben das Geistesleben wie einen Fremd-
körper.

Nun wird auch die Natur des kirchlichen Fehlers bestimmbar. Er besteht
in der Meinung, jene gewaltige Exklusivität des Religiösen könnte über--
haupt durch irgendeine greifbare, formulierbare Grenze ausgedrückt werden.
Ebenso wie das Religiöse überhaupt jeder Festlegung spottet, so seine
Exklusivität jedes Versuches verbindlicher Festlegung. Sie ist viel inten-
siver, als jede kirchliche und ist gerade darum die unfaßbare. Denn der
Versuch empirischer Abgrenzung würde ein Gebiet sichern wollen, dem
die religiöse Exklusivität nicht gilt und kommt damit in Streit mit ihrer
Absolutheit. Iene ungeheure Gegensätzlichkeit zu allem Menschlich-Mög-
lichen kann in ihrer kosmischen Spannung immer nur auf der Nadel-
spitze des Augenblicks stehen; mit jedem Versuche, sie in Formeln zu fangen,
ist sie ihrer ganzen Göttlichkeit beraubt und jäh in die Elendsgestalt
menschlich-eigensinniger, willkürlicher Engigkeit verwandelt.

Mag also die Ausprägung, die das kirchliche Schema der religiösen
Exklusivität gab, verfehlt sein, daß es sie überhaupt sah und um sie rang,
darin besteht seine religiöse Äberlegenheit über jede harmonistische Idee
einer Volkskirche, die jene Menschenfremdheit des Religiösen
nicht beachtet. Denn dann ist solch Harmonismus unreligiös und gottwidrig.

Wo jener religiöse Exklusivismus in den neben der Kirche verlaufen-
den religiösen Bewegungen zum Bewußtsein kam, geschah es gewöhnlich
in Form eines religiösen Aristokratismus, der die religionsentstellende
Trägheit der Menge erkannte, die Geringschätzung der Gewöhnlichen zum
Prinzip erhob und aus dem engen Zirkel des Ergriffenseins auf die „Nur-
Berufenen" herabsah. Damit wurde aber einfach der Fehler des kirch-
lichen Exklusivismus wiederholt, sogar in schlimmerer Form. Zwar ist
das dann nicht eine Formel, die die Unterscheidung rechtfertigen muß.
sondern die unfaßbare Wesenhaftigkeit des gnadenreichen Ergrif-
fenseins, also ein rein persönlicher, ja überpersönlicher Wert. Aber sobald
dieser zur Erhebung einzelner über andere und zur Statuierung solches
Zustandes herhalten muß, ist er mißbraucht und in seine eigene Fratze ent-
stellt. Die kirchliche Tradition konnte das nie ganz vergessen. Das ver-
hinderte das Vorbild ihres Meisters, der trotz seiner himmelhohen Lrwählt-
heit „der Zöllner und Sünder Geselle" war, zu den Kranken, nicht
zu den Gesunden sich gesandt wußte und sich von den Pharisäern deshalb
schied, weil sie „ihre eigene Ehre suchten". So konnte die religiöse Er-
hobenheitsgewißheit nie unbesehen in den Dienst der Distinguiert-
heit gezogen werden. Die Bemühung, sich vom Pharisäertum fernzu-
halten, mag dem kirchlichen Benehmen überwiegend mißglückt sein, ganz
einschlafen konnte sie nie. Wo aber die Distinguierung ihren Grund nicht
bloß in relativ äußerlichen Dingen sucht, sondern das innerste persönlich-
überpersönliche Geheimnis ihr dienstbar macht, statt ihm zu dienen, da
ist die Vergiftung bis in die innersten Kammern getragen und darum desto
verhängnisvoller. Das Absolute erträgt ja überhaupt keine relativen Ab-
zäunungen; alle menschlichen Rnterscheidungen versinken da in die Be-
deutungslosigkeit, wie ja auch in der Mathematik der Abstand zum „wahr-
haft unendlich Großen" von der s nicht größer ist, als von der Billion
und ihrem Quadrat. Die scharfe Linie, mit der das Göttliche alles
Menschliche zerschneidet, läuft ebenso tödlich mitten durch das Herz des
Begnadetsten, wie durch den dumpfen Sinn des Nnbewegten, allemal ist
 
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