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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI issue:
Heft 10 (Juliheft 1922)
DOI article:
Schumann, Wolfgang: Das Unerschöpfliche
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0222

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dem wir gehören, Gott! Frage nicht, zweifle nicht, grüble nicht, glaube!
Er i s t; er ist dein, wie er unser ist, Vater und Helser, unerschöpflich au
Liebe, Güte, Trost wie an Macht, Maß und Sinn . . . Ihnen aber wider-
spricht auch irdische Liebe. Sie sagt: Was unerschöpflich ist? du! Der
Mensch. Wie dein Sehnen unersättlich ist, von keiner Arbeit, Wissen-
schaft, Kunst, Natur auszufüllen, so dein Mitgehen, Mitfühlen, Mit-
schwingen mit dem Sehnen des Andern. Wohl ist Arbeit auslernbar, wohl
Wissenschaft enttäuschend, Kunst endlich Schein, Natur zuletzt kalt, aber
das liebend-geliebte Du, das aus sich rolleude Rad Meusch, die vom ersten
zum letzten Atemzug bewegte Seele, wer lernt sie aus, wenn sie Viel-
sältig, wen enttäuscht sie, weun sie reich ist? wen dünkt sie Schein, da sie
das Gewisseste ist, das du selber erlebst? wen kalt, da sie der Inbegriff
aller Wärme ist von der Kindzeit an, da Mutterseele dich wärmend um-
sängt bis zur Todesstunde, da Kindesliebe dich weinend hinüber geleitet?
Wie von Nrbeginn-Zeiten der Menschheit an erst Gemeinschaft, niemals
der Einzelne, Grausen und Schauer der Weltangst überwand, so überwindet
sie noch heute die schmerzliche Gewalt sehnsuchterfüllter Einsamkeit. Ver-
sinke ins Du und du kannst niemals ihm völlig enttauchen. Selbst der
Tod scheidet dich nicht von ihm. Menschtum ist — unerschöpflich. Ist jeden
Tag neu. Ist nie ein und dasselbe und doch immer geheimnisvoll im
Ich-Keru sich gleich. Fst Leben, das Leben versteht, Sehnen, das Sehnen ver-
steht, Leiden, das Leiden versteht, Freude, die Freude versteht. Klage! und
Seele wird mit dir klagen. Iuble! sie wird mit dir jubeln. Wandre durch
tausend Klüfte und über tausend Ströme! sie wird mit dir wandern. Ruhe!
sie wird dich erfreuen mit ihrer Nnruhe. Schenke! sie wird dich erfreuen
mit Dank. Liebe! sie wird dir zuwachsen in Gegenliebe. Rätsele an ihr
wie du willst, du kommst nicht auf den Grund — und doch liegst du immer
an ihrem Grunde. Alles ist sie, wie du alles bist, und doch nie du.

So spricht Liebe seit Menschengedenlen. So treibt sie den Arbeitenden,
den Gelehrten, den Künstler, den Naturliebhaber hinaus über sein Bereich
ins Menschliche, verspricht sie dem Suchenden iu Mann, Frau, Kind das Nn-
erschöpfliche, den verjüngenden Quell, die Äberwindung aller Qual, die
Welt erfaßbar im Kristall des andern Ichs.

Vielleicht irrt sie. Menschenverächter zählen ihr ins Gesicht auf die Un-
zulänglichkeiten unseres Geschlechtes: Härte, Mißgunst, Ichsucht, Platt-
heit, Eitelkeit, Machtgier, Wahn, Enge und die tausend anderen. Was
ist schließlich der Mensch? das berühmte „Du"? Ein großer Irrtum!
Wir bleibeu einander fremd. Gemeinschaft erschöpft sich. Teilnahme er-
kaltet. Widerhall täuscht. Arbeit, Wisseuschaft, Kunst, Natur, Menschtum
— es ist ein und dasselbe, eine einförmige Reihe von Enttäuschungen.

Liebe lächelt zu solchen Worten. Sie hört sie und begreift nichts davon.
Aus ungewußtem Quell sprudelt sie umso heller empor. Enttäuschung
enttäuscht sie nicht. Uuzulänglichkeit kräukt sie nicht. Sie weiß, daß sie
nicht haben will, sondern geben. Daß kein Irrtum sie letztlich tötet. Daß
sie alles übersteht. Sie ist selbst der Beweis für ihres Weges Wahrheit.
Denu mag sie auch millionenmal unvollkommeu erscheinen, durchkreuzt
von Widrigem, durchschattet von Unerhellbarem, zerrissen vou allen Allzu-
menschlichkeiten, einmal und dort wieder und noch eiumal uud immer
wieder ersteht sie rein, ist sie unerschöpflich und kennt das Unerschöpfliche,
den Menschen, der sie empfängt und erwidert und ihre Glut bis zum letzten
Blick des brechenden Auges nährt. Wolfgang Schumann

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