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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1922)
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Kuntze, Friedrich: Von philosophischem Größenwahn: an das vierte Mandel der zurzeit unsterblichen Philosophen Deutschlands
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0258

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gestempelter Philosoph. Das ist kein Großec von Thales bis Leibniz ge-
wesen (Ihr seid es anch nicht), Kant war so etwas, aber den habt Ihr
ja alle vierundsechzig jeder für sich, anf zwei bis fünf Seiten „erledigt".
Also, nehmt mich immerhin so zum Bruder, wie Polydeukes den Castor
hatte — wobei ich Euch das Gebet an Zeus um die gleiche Uusterblichkeit
für mich erlasse. Also, meine lieben Brüder in Plato, hört einige be-
scheidene Lrinnerungen eines bescheidenen Mannes!

Ich wüßte zu Eurem Preise nicht besser zu beginnen, als damit, daß Ihr
endlich die Definition der Philosophie gefunden habt, um die wir Geister
einer niederen Rangordnung noch vergeblich ringen. Sie ist, wie alles
Große, einfach und lautet: „Philosophie ist diejenige Wissenschaft, in der
man ohne die mindesten Vorkenntnisse ein großer Mann sein kann."
Aber sagt: ist es unbedingt notwendig, daß man von dem Zutreffenden
eines gewifsen Teiles dieser Definition für Euch slchon nach dem Lesen der
ersten fünf Seiten Eurer Werke überzeugt ist? Ihr befolgt Voltaires Rat,
mit so wenig Gepäck als möglich in die Unsterblichkeit zu gehen, und unter
diesem Gepäck versteht Ihr das philosophische Wissen. Demgemäß
lest Ihr — kursorisch — den Schwegler oder den Deter (aus denen sich
die von Euch gar gering geschätzten Theologen und Oberlehrer ihre
Examensweisheit holen), sodann Schopenhauer, Parerga Teil II. Für die
übrigen Schriften Schopenhauers genügen Euch die von Frauenstädt ver-
sammelten „Lichtstrahlen" aus den Werken des Meisters — man merkt es
aus Luren Zitaten. Dann kommen einige Werke von Nietzsche und die
Schriften etwelcher Freunde, die andere Sterbliche, wie gesagt, erst in
hundert Iahren lesen werden. Dies Gepäck kann man in einer tzand be-
quem forttragen. Das ganze übrige menschliche Wissen ignoriert Ihr,
vor allem die Mathematik. Recht so, denn Ihr sagt ja in Euren Vor-
reden, daß Ihr auch streng beweist, was Ihr sagt, und die Mathematiker
haben so bestimmte, unbequeme und fraglos längst überholte Gedanken
über die Strenge des Beweises. Doch halt, hier tue ich Euch schon Un-
recht: in fast jedem Eurer Bücher finde ich die Gaußische (Ihr sagt Rie-
mannsche) Vorstellung von den unendlich platten Tierchen, die auf einer
sphärischen Fläche herumkrabbeln. Weshalb gerade diese Reminiszenz?
Doch nicht deshalb, weil sie so vorzüglich haftet durch die Erinnerungs-
anknüpfung an das bekannte Phänomen der Kopfläuse? So, und nun
geht der Ritt los ins Gebiet der Philosophie: Bürger hat sein Tempo
schon in einer bekannten Stelle seiner „Lenore" geschildert.

Der Renner, der das geringste Gepäck hat, wird am fixesten laufen —
und in der Fixigkeit seid Ihr ja allen über. Neulich hob mich einer der
Euren zu sich auf sein Geisterroß,- kein Reisender Iules Vernes ist je
schneller expediert worden, kein Zaubermantel hat je schneller einen Phi-
lister über weitere Länder geführt als dieser „Schaffende" mich. tzört zu,
Ihr Mitphilister! Erstes Buch (!i Seiten): Der Autor stößt die Tür
zu einer neuen Kultur auf, vernichtet aus zwei Seiten Kant und schließt
mit der Entdeckung, daß drei Gewaltige unter den gewaltigen Menschen*
der Renaissance sich mit dem Problem des Fliegens befaßt hätten: Lio-
nardo da Vinci, Shakespeare, Spinoza. Zweites Buch: Der Verfasser
macht zu den bisherigen eine neue unsterbliche Entdeckung, und seine Seele
jubelt darüber (auf 6 Seiten). Drittes Buch: Die Liebe wird auf 4 Seiten

* Wenn nnsre Ansterblichen im Lapidarstil redsn (nnd das tun sie meist), so ist

es immer, als hätten sie einen Kloß im Munde.

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