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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1922)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Gefährlichste Zeiten: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0335

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so sehr unterscherdende Anelastizität unserer Herrenschicht, die Verant-
wortungslosigkeit unserer alle Welt in schwieriger Situation aufreizenden
Intellektuellen, die einseitig geschäftliche, politisch und geistig gleichgültige
tzaltung unserer Großindustriellen für unser schwerstes Anglück. Die Herren-
klasse und die Intellektuellen HLtten aus dem Kriege und der gegen uns
gerichteten Weltpropaganda nichts gelernt und wollten heute noch nichts
lernen. Dies werde zu ihrem völligen und endgültigen Sturze führen
trotz vieler glänzender Eigenschaften. Eine neue Gesellschaftsschicht müsse
kommen, aber woher? Er hoffe auf die Nachkommen der heutigen Ar-
beiterschaft, die die Tüchtigkeit dieser Klasse zu Staats- und National-
gefühl und zu Ehrfurcht vor der geistigen Kultur und Religion reifen
lassen werde.

Wie dieser moralische Gegensatz gegen die romantisierte und gegen die
nackt-brutale Moralinsreiheit zu verstehen ist, das ist leicht an ein paar
Beispielen klar zu machen. Der neue Band des Spenglerschen Buches
handelt an einer Hauptstelle vom Neuen Testamente. Das einzige Wort
in diesem, das vornehme Rasse habe, sagt er, sei das Pilatuswort: Was
ist Wahrheit? So spreche der Vornehme und Mächtige, der den Aberglau-
ben der Philosophen, Doktrinäre und Atopisten an den Geist nicht kenne.
Der Sinn der Geschichte sei Kampf, Blut, Krieg und die Erfüllung eines
großen Schicksals. Die Antwort Iesu, daß sein Reich nicht von dieser
Welt sei, sei völlig richtig. Sein Ethos gehöre nicht in die Wirklichkeit und
die Geschichte, sondern in das Reich des Rasselosen und Anwirklichen,
von dem der Historiker nur konstatieren könne, daß es in ohnmächtigen
Exemplaren existiere, aber mit dem Sinn der Geschichte nichts zu tun
habe. „Iede moralische Handlung ist ein Stück Askese und Abtötung
des Geistes. And eben damit steht sie außerhalb des Lebens und der ge-
schichtlichen Welt." „Die Tatsachenwelt der Geschichte kennt nur den
Lrfolg, der das Recht des Stärkeren zum Recht aller macht. Sie geht
erbarmungslos über die Ideale hin, und wenn ja ein Mensch oder Volk
auf die Macht der Stunde verzichtet hat, um gerecht zu sein, so war
ihm wohl der theoretische Ruhm in jener zweiten Welt der Gedanken und
Wahrheiten gewiß, aber auch der Augenblick, wo er einer anderen Lebens-
macht erlag, die sich besser auf Wirklichkeiten verstand als er." Das ist
der Geist, den Rathenau für unser Anglück hielt, den er uns um unsere
Ehre in der Welt bringen sah, den er zum Bürgerkrieg auswachsen fühlte,
dem er daher stets von neuem seine Synthese von sozialer Realität und
idealem Glauben entgegen stellte. Spengler wird wohl sagen, dafür habe
auch er, Spengler, Recht behalten und Rathenau das Feld der Wirklich«
keit räumen müssen. Aber wir werden dasür auch diese Ermordung der
Ideen teuer bezahlen müssen.

Oder ein anderes Beispiel! Ich habe ziemlich genau vor einem Iahr in
diesen Briefen über eine Anterhaltung mit einem Großindustriellen be-
richtet, der im allgemeinen die bekannten Theorien von der Ersetzung des
Staates durch Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsführer vertrat und
auf den Einwurf, daß die Arbeiterschaft sich das nicht gefallen lassen werde,
dis Luftreinigung durch einen Bürgerkrieg für allerdings unvermeidlich
erklärte. Die Regierung müsse eingeschüchtert, Kompromißlustigen der Ein-
tritt in sie verleidet werden. Die Massen und der Bürger seien feige. Mit
ein paar hundert Mann, die zu allem entschlossen seien, könne man alles
erreichen. Moralisch sei das unangenehm und widerwärtig, aber die

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