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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

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Heft 11 (Augustheft 1922)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0343

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hin an einen einzigen Ton gebun-
den ist, während ein kurzer Abstieg
unr eine Terz oder Quinte, nritunter
auch ein leichtes Melisma, die Ein-
schnitte im Vortrag und den Schluß
eines Absatzes andeuteten. Genau so
sangen die drei Geistlichen auch gemein-
sam die Reden bes Volkes. Seitdem
diese primitiven Versuche einer künst-
lerisch-dramatischen Darbietung des
Evangelientextes von Bach und seinen
Vorgängern zur nunmehr fcststehenden
Form der Passion erhoben wurden,
schwanden allmählich die Ansätze zur
Betätigung der Volkskunst an dem hei-
ligen Stoff, und der schöne Brauch ge°
riet in Vergessenheit. Ganz vereinzelt
ist es in abgelegenen Dorfkirchen vor
etwa fnnfzig Iahren zwar noch Sitts
gewesen, die Leidensgeschichte vom Geist-
lichen am Altar lateinisch lesen zn
lassen, während der Lhor Abschnitt für
Abschnitt mit verteilten Rollen dentsch
sang. Aber auch diese lehtc Lrinnerung
an die tätige Anteilnahme der Gemeinde
bei der Vorlcsung des Evangclinms am
Karfreitag ist heute verklungcn. Zufäl-
lig hat sich nun in einer Kirche der
Glatzcr Gegend der Text mit allen No°
ten zu einer solchen alten deutschen Pas-
sion erhalten. Hermann Hoffmann
hat Worte und Weisen für sehr billiges
Geld im Verlage des Quickbornhau-
ses (Burg Rothenfels a. M.) heraus-
gegeben, und nachdem die Quickborner
in einer kleinen süddeutschen Dorfkirche
zuerst gezeigt haben, welche tiefenWir-
kungen von diesem Stück alter deut-
scher Volkskunst auch heute noch aus-
gehen können, haben es ihnen bereits
ein Dutzend Kirchen in ganz Deutsch-
land nachgemacht. Vielleicht versuchen's
nun, da die Noten dazu vorliegen, anch
andere. Die Passion ist offenbar sehr
alt, da sowohl Einzelsänger wic Lhor
streng am Psalmodierenden Stil festhal-
ten. Sogar die Aberschrift „Die Leiden
unseres Herrn Iesu Lhristi, wie uns
Sankt Iohannes beschreibet" wird in
naiver Weise noch vom Chor gesungen,
und nichts verrät die Einflüsse einer
Kunst, die selbständig und nnabhängig
von der überlieferten kirchlichen Form
nach eigenem Ansdruck sucht. Alles ist
leidcnschaftslose, ruhige und feierliche
Darstellung.

AnBachsche oder auch nur Schützsche

Musik darf man bei dieser Passion
nicht denken. Aber sie besitzt außer
ihrem Wert als echtes Volksgut noch
den besonderen Vorzug, daß sie sich
ohne die geringste Störung der eigent-
lichen gottesdienstlichen Handlung im
Rahmen der Liturgie unterbringen läßt.
Das wird manchem Geistlichen nnd
manchem Kantor willkomrnen sein, denn
schließlich läuft ein wesentlicher Teil der
kirchlichen Reformbestrebungen darauf
hinaus, die Teilnahme der Gemeinde
an der Liturgie zu steigern.

Artur Liebscher

Nathenaus Schriften

ic Schriften Walther Rathenaus,
aus denen wir einige Proben im
vorderen Teil des Kunstwarts darbic-
ten, gliedern sich — unscharf — in drci
Gruppen: philosophische, gesellschaftkri-
tische und zeitpolitische. Unter den phi-
losophischen Schriften steht die „Mecha-
nik des Geistes" an erster Stelle, ein
Weltbild, das in geprägter Kürze die
stetc Selbstentfaltung der Welt von den
Gestirnnebeln bis zum kommenden Reich
der Seele abbildet. Hiezu gehört, er-
läuternd, wiederholend, vereinfachend
das Kapitel „Das Ziel" in -dem Buch
„Von kommenden Dingen", die sehc-
rische Schrift „An Deutschlands Iu-
gend" und ein Teil der bedeutenden
und tiefen Aphorismen nnd Aufsätze
im vierten Vande der Gesammelten
Schriften. — Auch die „Kritik der Zeit",
Rathenaus eindringlichste gesellschast-
kritische Arbeit, ist von dem philoso-
phischcn Geist der „Mechanik" durch-
waltet, wie überhaupt alle Schriften
Rathenaus sozusagenAbkömmlinge die-
ses Hauptwerkes sind. Von den weite-
ren gesellschaftkritischen Schriften sind
mehrere der Wirtschaft gewidmet: dis
kleine kritische Studie „Vom Aktien-
wesen", die Kriegswirtschaftschriften:
„Deutschlands Rohstoffversorgung" und
„Probleme der Friedcnswirtschaft", die
utopische wegweisende Schrift „Die neue
Wirtschaft", neben dcr die außcrordent-
lich großzügige Arbeit „Autonome
Wirtschaft" (Verlag E.Diederichs,Iena)
steht. SoziologischenInhalts sind: „Der
neue Staat" und „Die neue Gesell-
schaft", beides abgeklärte Darstellungen
kommender Lebensformcn. Eine Zu°
sammenfassung seiner negativen und

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