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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1922)
DOI Artikel:
Liebscher, Artur: Vom modernen Lied
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0364

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jüngsten Tonsetzer haben eine auffällige Scheu vor der Melodie. Von
Berlioz und Wagner ist uns der farbige Orchestersatz geschenkt worden.
Die moderne Musik hat ihn übernommen, und die neuesten Erzeugnisse
des Liedschrifttums sind sogar im Grunde nichts anderes, als die E»
hebung der Farbe zum wesentlichen Ausdrucksprinzip. In der Orchester--
musik ist der Versuch bereits älter. Daß er im Lied so spät gemacht wurde,
liegt an den Schwierigkeiten, die sich gerade Hier entgegenstellen. Denn
jedes Instrument ist leichter im Sinne der musikalischen Farbengebung
verwendbar als die Stimme eines Menschen. Mit jedem kann man
beliebig Farbentupfen in ein Klangbild setzen. Die Stimme aber bleibt
an den Wortsinn gebunden. Sie wird, solange man sie nicht einfach mit
Vokalen beschäftigt, von der Notwendigkeit, den Satzsinn darzustellen, in
eine melodische Linie geradezu Hineingezwungen, widerstrebt also dem
Ausdrucksprinzip der Farbigkeit und beharrt bei der Zeichnung. Die
schimmernden und schillernden Bildchen, die Felix Petyrek alsLieder
oder Karl Szymanowski als Gesänge (in der Nniversaledition in
Wien) veröffentlicht hat, leiden beinahe unter dem Anvermögen der Stimme,
sich nur färbend zu betätigen. Petyrek hilft sich durch Heranziehung von
Klarinette, Geige und Bratsche, um zu ersetzen, was eine gesungene Me-
lodie nicht geben kann, und was das Lied Petyreks und seiner musikalisch
Gleichgerichteten doch über das Lied der Vergangenheit hinausheben soll.
Auf die rasche und lebendige Erregung einer Stimmung kommt es ihnen
an. Vielleicht gelangen wir in Zukunft zu einer reinen Form des Stim--
mungsliedes, zu einem Kultus nur unbestimmt betonter Allgemeingefühle
im Gegensatz zu der gegenwärtig herrschenden Form des Liedes als Be--
kenntnis ganz bestimmten seelischen Erlebens. Es wird nur abzuwarten
sein, ob sich mit der Technik der hundert farbigen Flecken und Fleckchen
eine Erweiterung des gegenwärtig noch recht eng umschriebenen Stim--
mungskreises erzielen lassen wird. Denn das ist wohl das stärkste Ve--
denken, das man gegen sie geltend machen kann: der Text mag sein wie er
will, für die Berkünder des neuen Liedideals gibt es immer wieder eigentlich
nur eine einzige Stimmung, jenes traumhafte, blasse, leise melancholische
seelische Hindämmern, das durch Debussy eingeführt wurde. Den jungen
Tonsetzern ist heute in Paris die Technik dazu ebenso geläufig wie in
Berlin oder Wien. Was die einzelnen Gesänge unterscheidet, läuft höchstens
auf eine Anderung der Nuance hinaus. Sonst bleiben sich die Erzeug--
nisse dieser modernen Großstadtmusik durchaus gleich. Das ist das Be--
denkliche an ihnen, nicht die Wahl der Mittel oder die Form an sich
Gelingt es ihnen, Stimmungen in das Ausdrucksgebiet einzubeziehen, die
innerlich aufrichten, das Leben bejahen, Kräfte verbreiten, dann mögen sich
die Tonsetzer dieser Technik bedienen, so oft sie wollen. Man schelte nicht
auf Mendelssohn. Sein Lied ist weich und blaß, aber an dem typischen
neumodernen Stimmungsliede gemessen erscheint er geradezu als Kraft--
natur. Ob im Lied die Verschiebung des Schwergewichts in den Instru-
mentalteil über die bloße Veränderung der Form hinaus einen Fortschritt
schlechthin bedeutet, bleibt abzuwarten. Denn zunächst gibt das Lied etwas
Wesentliches auf, wenn seine Singstimme absichtlich bestimmter musikalischer
Eigenfchaften soweit entkleidet wtrd, daß sie nur noch die genaue rhythmische
und melodische Fixierung abzulegen braucht, um schließlich im Melodram
zu enden. Der Anterschied zwischen Lied und Melodram ist heute, da wir
bereits gesprochene Texte mit Andeutung der Aeitwerte und der unge--

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