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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1922)
DOI Artikel:
Feuerbach, Ludwig: Leben und Menschen, Schriftsteller und Bücher: von Ludwig Feuerbach
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0368

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ist zwar auch eine schöne, liebenswürdige Iungfrau, aber ein bischen zu
sinnlicher Natur, zu glanz- und gefallsüchtig. Darum fesselt sie auch so
leicht den unerfahrnen Iüngling, und den durch sinnliche Eindrücke be--
stimmbaren Menschen, während ihre Schwester nur den gereiften Mann,
den denkenden Menschen anzieht.

(Txie echten Schriftsteller sind die Gewissensbisse der Menschheit. Das Ge-
^wissen stellt die Dinge anders dar, als sie fcheinen- es ist das Mikroskop,
das sie vergrößert, um sie unsern stumpfen Sinnen deutlich und erkennbar
zu machen. Es ist die Metaphysik des Herzens. Es kritisiert mit Strenge
und Bitterkeit unsre Handlungen, löst sie in ihre Motive auf und selbst
diese wieder in ihre feinsten Bestandteile, macht zu unserm größten Leid--
wesen haarscharfe Distinktionen, die wir zu unsrer Beruhigung für bloße
Hirngespinste und Spitzfindigkeiten auszugeben nur gar zu fehr geneigt
sind,- es ist ein Doctor seraphicus, ein Doctor fundatissimus, ein Doctor
subtilissimus. Armselige Menschheit, wenn du kein gutes Gewissen mehr
hast, wenn du die Vorwürse, die es dir macht, als bloße Subtilitäten und
Superlative, als Abertreibungen eines kränklichen überspannten Gemüts
betrachtest, um die Stimme des Gewisfens zu betäuben!

^ve mehr sich unsre Bekanntschaft mit guten Büchern vergrößert, desto ge°
Oringer wird der Kreis von Menschen, an deren Umgang wir Geschmack
finden.

r^>n vino veritas, das ist ein alter, ein recht schöner und probater Spruch.
OAber ich sehe nur nicht ein, warum wir allein dem Weins die Kraft
beilegen wollen, die Zunge zu lösen und die Geheimnisfe der Seele zu
offenbaren. Wir können mit gleichem Rechte sagen: in amore veritas, in
gaudio veritas, in dolore veritas usw., denn in Liebe, Freude, Schmerz
wirft der Mensch die Schranken nnd Rücksichten weg, die er sonst beobachtet
und enthüllt so sein wahres Wesen. Wir können überhaupt sagen, daß sich
da ein Wesen zu erkennen gibt, wo es sich frei, unbedingt, rücksichtslos aus-
spricht, denn nur da gibt es ein entschiedenes und charaktervolles, ein ab-
solut bestimmtes Dasein. Wo glaubt ihr denn, z. B. die Natur einerLeiden-
schaft, par exemple der Liebe erkennen zu können? etwa da, wo die Brust
ausgepolstert ist mit einem ganzen Wust voll anderweitiger Interessen, Sor--
gen und Rücksichten, so daß die Pfeile Cupidos durch den Watt nicht hin-
durchdringen, höchstens Nur einen leichten Ritz auf der Haut bewirken können
oder nicht vielmehr da, wo das entblößte, das frank und sreie Herz von
seinen Pfeilen sich bis auf den Grund durchbohren läßt? etwa da, wo sie
sich in einer solchen gemäßigten Temperatnr erhält, daß sie nur den Appetik
und die VerdauungsgeschLfte befördert, oder nicht vielmehr da, wo sie sich
bis zur tragischen Glut, bis auf jenen Gipfel des Enthusiasmus empor--
schwingt, wo die auf der platten Ebene unübersteiglich erscheinenden
Grenzen der höchsten Gegenstände des Lebens als ein unbemerkbares Nichts
von ihr verschwinden? Ia, bei einiger Energie des Denkens werdet ihr die
Behauptung nicht zu kühn finden, daß die Natur so mancher Sache sich
wahrhafter ausspricht und besser, unendlich besser in solchen Menschen und
tzandlungen zu erkennen gibt, die man gewöhnlich verrückte, exzentrische,
unmoralische, ja, verbrecherische nennt, weil sie die Sache mit freier, rück-
sichtsloser Entschiedenheit aussprechen, als in solchen Menschen und 'Hand--

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