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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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Ettlinger, Karl: Der Werdegang einer Sängerin, [1]
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Der Werdegang einer Sängerin.
Von Karl Ettlinger (München).


[Nachdruck verboten.]


orgestern gelang es mir endlich, die berühmte Sängerin Aurora Schwindel-
meyer — oder wie sie mit ihrem Bühnennamen heißt: Thea Verite — zu
interviewen. Ich hatte ihr einen Brief geschrieben, in dem -ich sie bat,
mich zu empfangen, da ich beabsichtigte, ein zehnbändiges Werk über sie mit fünf-
hundert ihrer Photographien zu veröffentlichen, und ich hatte in dem Brief die Be-
merkung einfließen lassen: „seitdem ich Sie, anbetungswürdiges Fräulein, habe singen
hören, begreife ich nicht mehr, wie die Welt einem Anfänger wie Caruso Beifall
spenden kann". Sie hatte mir umgehend geantwortet, mein Besuch werde ihr recht
angenehm sein, denn ich schiene ihr einer der seltenen
Menschen zu sein, die wirklich etwas von Musik verstehen.
Besonders sympathisch aber berühre es sie, daß ich nicht
schmeichle, sondern bei der Wahrheit bliebe.
Da ich diese Antwort erwartete, hatte ich bereits vor-
her meinen Zylinder ausgebürstet und meine Handschuhe
ein Benzinbad nehmen lassen. Ich kaufte noch schnell das
schönste Zweimark-Bukett, das für achtzig Pfennig zu haben
ist, und fuhr mit der Trambahn zu Fräulein Schwindelmeyer.
Die Göttliche empfing mich sehr liebenswürdig. Zu-
nächst tauschten wir einige Wahrheiten aus, das heißt: ich
sagte ihr, ich hätte sie in ihren sämtlichen Rollen gehört,
und sie sagte mir, sie hätte meine sämtlichen Bücher gelesen.
Dann erzählte sie mir, Bayreuth habe ihr angeboten, im
„Siegfried" mitzuwirken. Ich dachte natürlich, es handle sich
um die Rolle des Drachen, zu meiner Überraschung aber
erfuhr ich, daß die Rolle des Waldvögeleins gemeint
war. — Nun, Tier ist Tier.
Als wir dann beim Tee saßen — der Tee ist das
einzige bei ihr, was noch zieht —, kamen wir endlich auf
den eigentlichen Zweck meines Besuches zu sprechen: näm-
lich auf eine Schilderung ihres Werdeganges als Sängerin.
Ich könnte ja jetzt erzählen (und jedermann würde es
mir glauben), die Göttliche sei ein Kind Palestrinas und
der Frau Beethoven, sie habe schon mit zwei Jahren die
Lulu in Wedekinds „ Erdgeist" gesungen und habe dann
bei Moissi Gesang studiert, bis eines Tages Richard Wagner
sie hörte und sofort aus Begeisterung die Rolle des Nacht-

wächters in den „Meistersingern" eigens für sie schrieb — aber ich habe mir fest
vorgenommen, strickt bei der Wahrheit zu bleiben und als gewissenhafter Interviewer
nur das wiederzugeben, was mir Fräulein Schwindelmeyer erzählte. Höchstens kürze
ich ein wenig.
Die Göttliche wurde am 1. Januar 1890 geboren, — das Datum 5. April 1864
auf dem Geburtsschein ist ein Druckfehler. Ihr Vater war ein höherer Beamter,
nämlich Schuhmacher, die Mutter eine geborene Kreolin aus Groß-Lichterfelde. Von
ihr hat sie das heiße spanische Blut geerbt, sonst nichts. Amalie war das vierzehnte

Hans Stubenrauch: Der Werdegang einer Sängerin: Die Entdeckung des Talentes.

von zwölf Kindern und hat es daher stets für eine Ehrenpflicht gehalten, ihre
jüngeren Geschwister zu unterstützen. Alle Verwandten, die das neugeborene
Mädchen sahen, waren sich sofort einig in ihrem Urteil: „eine herrliche Bühnen-
figur!" Aber ihr Vater war ein fanatischer Gegner der Bühne, weil er gelesen
hafte, daß schon oft Grafen und Barone Bühnenkünstlerinnen geheiratet hatten,
und weil er überhaupt die Kunst nicht leiden konnte, seitdem ihm einmal im
Affentheater die Schnupftabaksdose gestohlen worden war. So mußte die arme,
kleine Göttliche ihr Talent gewaltsam unterdrücken und konnte während ihres
ganzen ersten Lebensjahrs lediglich nachts, wenn ihre Eltern schliefen, Gesangs-
übungen veranstalten. Gewöhnlich wachten dann alle Hausbewohner auf, um
ihr begeistert zuzuhören, Einige kündigten sogar aus Enthusiasmus.
In Auroras sechstem Lebensjahr unterdrückte man ihre Individualität, in-
dem man sie in die Volksschule steckte. Dort hatte sie im Singen „sehr gut",
in allen übrigen Fächern das Gegenteil. Besonders Rechtschreiben war ihre
schwache Seite, weil ihr die kreolische Orthographie im Blute saß. Aber sie
war ein hübsches und munteres Mädchen, und wenn sie auf dem Schulweg
„Ja, beim Souper“ oder ein anderes echtes Volkslied sang, blieben die Leute
stehen und winkten ihr mit dem Spazierstock freundlich zu, bis sie schnell um
die nächste Ecke verschwand. Damals erwachte übermächtig der Drang zur

XXVIII. 2.
 
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