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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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9. Heft
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Ertel, Jean Paul: Der Werdegang einer Sängerin, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0271

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X IO

MODERNE KUNST.


hohen C; denn der Professor behauptete, Klara habe eine ausgemachte Koloratur-
stimme. Nur müsse sie noch das höchste F erreichen, dann könne sie damit Millionen
verdienen, und zum Beweise, daß dies im Bereiche der absoluten Möglichkeit stünde,
ließ er die Eltern einen Vertrag unterschreiben, wonach deren Tochter nach erfolgter
Ausbildung ihm von jedem Engagement 10 Prozent des Honorars abzugeben habe.
Das sei so allgemein Sitte. Auch dies wurde gemacht. Nun kam ein italienisches
Studium: die Töne von C aufwärts hießen jetzt Do, Re usw.
Bald erwies sich die Unzulänglichkeit des Lehrers, ein anderer folgte, an dessen
Stelle kurz darauf ein dritter trat. Schließlich probierte Klärchen die Regenschirm-
methode. Jedesmal, wenn so ein böser hoher Ton sich dem Kehlkopf entringen sollte,
mußte dabei ein Regenschirm aufgespannt werden. Das sollte die Energie steigern.
Aber Klärchen war der drolligen Meinung, daß der Regenschirm ganz andere Zwecke
im Leben verfolge, als hohe Töne hervorzubringen, und deshalb wandte sie sich der
neuen „Erbsenmethode" zu. Aber auch das war nichts. Denn jedesmal, wenn ein
so hoher Ton gesungen werden sollte, eine Erbse gegen die Fensterscheibe zu werfen,
schien ihr beinahe verfehlt. Diesen etwas äußerlichen Methoden folgten die inner-
lichen. Das schien rationeller. Ein genial konstruierter Apparat, der in
den Mund geschoben wurde und die Zunge niederdrückte, nebenbei auch
die Zungenbeinmuskel stärkte, konnte Wunder wirken. Auch wurde die
Nase mit einer Klammer zugedrückt, damit der Ton „nach vorn komme".
Auf Anraten versuchte es nun weiterhin das unzufriedene Klärchen mit
dem „primären Ton“, dem „Stauprinzip", der „Kopfresonanz"; schließlich
wurde ihr von alledem so dumm, als ginge ihr ein Mühlrad im Kopfe
herum.
Inzwischen hatte Papa Müller die zweite Wiese verkaufen müssen; denn
die Stunden wurden mit der größeren Genialität der
„Methoden" immer teurer. Zuletzt bezahlte er gar
fünfzig Mark für die Stunde. Aber es mußte sein, denn
seine Tochter hatte ja Millionen in ihrer Kehle! Nun
kam eine Pause. Die arme Klara sah ein, daß sie auf
diesem Wege, der von der ernsten Überzeugung bis
zum Charlatanismus nur ein
Schritt war, nicht weiter-
kommen könne. Es däm-
merte ihr so etwas, daß es
am Ende doch noch eine
ziemlich natürliche Ge-
sangsmethode geben müsse,
die vor allem mit dem
Generalgeschenk der Natur,
einem besonders herrlich
gebauten Kehlkopf, rechne,
und so führte sie der
glückliche Zufall einer Ge-
sangsmeisterin in die Arme,
der es einigermaßen ge-
lang, die vielen Sünden
der auch zum Teil ganz
falsch angewandten Me-
thoden wieder zu beheben,
so daß anscheinend noch
ein brauchbares Mitglied
der edlen Sängerzunft aus
ihr werden konnte. Konnte
sie denn endlich einmal
wirklich „singen"; und das
erste Auftreten im Kirchen-
konzert hatte sogar eine
„gute Presse". Man wurde
auf den Namen der 20jäh-
rigen Klara Müller aufmerk-
sam. Aber die Oper! Das
war doch eigentlich des
Pudels Kern! Deshalb kam
Klara sehr bald in die
Opernschule. Was nützt
die schönste Stimme, wenn
man hölzern wie ein Stock
auf der Bühne steht? Zu
dem Singsang muß die
schauspielerische Routine
kommen. Die Töne des
Komponisten malen rea-
listisch höchste Verzweif-
lung; aber die Sängerin
lächelt ihr honigsüßestes
Lächeln, als hätte sie eben
einen Apfelkuchen mit
Schlagsahne verzehrt. Das

—: Z

geht natürlich nicht. Wütend schreit der Opernlehrer: „Aber mein Fräulein! Das
ist doch keine Verzweiflung! Mehr Ausdruck, mehr Geste; was soll denn Verdi von
Ihnen denken." Aber auch das lernt sich! Schließlich kann Frl. Klara Mollini, wie
sie sich jetzt zu Ehren der Familie Müller künstlerisch nennt, alle Posen der Dramatik,
die Bühnensängerin ist fertig. In der Konservatoriumsprüfung hat sie mit vielen
Ehren bestanden. Frl. Mollini wird allseitig eine große, gewinnbringende Karriere
prophezeit. Papa Müller-Mollini sieht den Zeitpunkt kommen, an dem er sich zur
Ruhe setzen kann. Der letzte Erfolg hat einige Agenten mobil gemacht. Einem
aufgehenden Stern muß man selbstlos weiterhelfen. Deshalb ist es nicht weiter
wunderbar, wenn wir eines Tages Frl. Mollini in der Anziehstube des Stadttheaters
in X vorfinden. Das erste Debüt! Mit scheelen Augen hat die bisherige Trägerin
der Rolle dieses Protektionsmanöver verfolgt. Im wahren Sinne des Wortes wünscht
sie der Konkurrentin den berühmten „Hals- und Beinbruch", den ersten ganz besonders,
weil sie dann nicht mehr singen kann. Klara Mollini ist in heller Aufregung. Der
erste Auftritt steht bevor, und noch ist sie nicht fertig angezogen. Je hübscher man
angezogen, desto größer der erste Eindruck. Das hat auch der Herr Intendant
gesagt. Also muß man
aufpassen. Doch was ist
das? Da erscheint der In-
spizient mit der Glocke
und mahnt energisch an
das bevorstehende Heraus-
treten. In aller Hast die
nötigsten Kleidungsstücke
und hinaus auf die Bühne.
Welch ein Augenblick!
Nichts kann im Leben dra-
matischer sein als dieses
dornenvolle „Hangen und
Bangen in schwebender
Pein". Die erste Arie ist
geendet, der Beifall setzt
ein, die Sängerin wird ge-
rufen; am Schlüsse der
Oper fliegen die Kränze
zu ihr hin, die ihr treue
Verehrer — daran fehlt es
niemals — gespendet haben.
Die Claque applaudiert mit
S3/4 Händen: der ersehnte
Erfolg ist da. Acht Hervor-
rufe! Einige gute Freunde
behaupten sogar, es wären
ihrer 22 gewesen! Gleich-
viel: Klara Mollini, die
bestens bekannte italieni-
sche Primadonna, hat in
Deutschland ihren ersten
gewaltigen Sieg errungen.
Von nun an wird ihr Name
in den ewigen Strom ver-
setzt werden. „Wer hätte
das gedacht", sagen einge-
schüchtert und dennoch
mit Stolz die Eltern, indem
sie ihr Goldkind mit den
künftigen Millionen im
Halse umarmen. Derweilen
steht die Konkurrentin, die
immer diese Rolle sang,
mit grüngelben, heraus-
quellenden Augen und ver-
zerrten Mienen in den Ku-
lissen. Der Triumph der
Debütantin ist ihr wirklich
nahe gegangen.
Noch am selbigen Abend wurde der grandiose
Erfolg im nahen Y-Hotel bei Sekt und Austern
glänzend gefeiert. Auch die grünäugige Konkurrentin
war dabei. Doch zwischen Lipp’ und Kelchesrand
haben die Götter die Nachtrezension gesetzt ....
Am andern Morgen berichtete das Tageblatt: „Fräu-
lein Mollini (wohl ein Pseudonym, da die Dame
durchaus nicht italienisch, sondern echt bürgerlich
deutsch aussah) gastierte gestern abend als „Valen-
tine“ in den „Hugenotten" auf Engagement. Wir
wissen nicht, wer dieser Sängerin den unsachge-
mäßen Rat zu einem öffentlichen Auftreten gegeben
hat, aber soviel steht fest, daß ihr dazu wenigstens

Der Werdegang einer Sängerin:
„Ja, sind Sie denn immer noch
nicht fertig?"
 
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