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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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9. Heft
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Abter, Adolf: Der erste Alleinflug
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0279

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MODERNE KUNST.

MODERNE KUNST.

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gewordene Geister standen die mythologischen
Figuren zu beiden Seiten der Naturbühne, manche
in koketter, manche in heroischer Haltung, die
meisten lebhafte Bewegung ausdrückend. Wie
ein Niederschlag des Lebens erschienen sie, das
einst zu ihren Füßen sich entfaltet hatte, wie ein
letzter starrer Abglanz all der hohen und schmerz-
lichen, verliebten, übermütigen, rührseligen und
stolzen Gefühle, die einst auf diesem lauschigen
Erdenfleckchen in zierlichen französischen Versen
dem kurfürstlichen Ilof und dem hohen Adel
Hannovers zur Ergötzung vorgeführt wurden.
Gewesen. Alles gewesen. Zu Asche zer-
fallen die frohe, adlige Menschenpracht, die über
die breiten Parkwege von Herrenhausen ge-
schritten, zur Zeit, als die Gartenkunst Lenötres
noch neuester Stil war, zerfallen der ganze stolze,
altersgraue Bau des Welfenherrschertums.
Vergangenheit. Todesruhe. Erinnerung. Ver-
sunken, wie alles dahinsinkt. Und — ist es denn
wirklich so traurig, das Wort „gewesen“? Tor-
heit, entschwundenem Glück nachzutrauern, weil
es einmal zu Ende ging. Weil es seine Zeit ge-
habt hat wie alles auf Erden. Und das, was das
Beste an ihm war, was uns seelischer Besitz ge-
worden ist, das bleibt uns ja doch, solange wir
es bewahren wollen.
Nicht mehr als Grollende, in bitterer Vor-
wurfstimtnung, stand Annelise in diesem Augen-
blicke neben dem Freunde, nein, wehmütig, milde,
gelassen; sie lächelte innerlich über seinen scheu
fragenden Blick, der etwas wie ein Schuldgefühl
verriet. Als ob er ihr etwas genommen hätte?
Er mochte ruhig sein. Was einer dem andern
nehmen kann, ist so unendlich wenig. Das, was
wir von einem Menschen zu empfangen glauben,
ist doch im letzten Grund unser eignes Werk,
unsere eigne Seelentätigkeit. Das, was der ge-
liebte Mensch für uns ist, ist er nicht wirklich.
Wir dichten ihn um. Er wird unser Produkt.
Wir machen ihn fruchtbar für uns und sind ihm
dankbar für ein Glück, das wir uns selber ge-
schaffen haben.
„Sie machen heute Ihr philosophisches Ge-
sicht“, sagte Brenkhusen.
Annelise nickte. „Richtig erkannt. Wenn
das nicht der Ort für philosophische Betrach-
tungen ist! Übrigens scheint es, als ob erst
Ihre Gegenwart die sanfte Greisenstimmung in
mir ausgelöst hat. Eben war ich sogar noch
ziemlich mißgelaunt. Ich komme von Altringens.“
Gurt Brenkhusen lachte. „Das sagt genug. Mit was hat meine
liebe Cousine Sie regaliert? Mit der Entfaltung von Mutterglück? Oder
mit medizinischen Ratschlägen, weil Sie in letzter Zeit auffallend ab-
gemagert oder zu stark geworden sind oder sonstige krankhafte Sym-
ptome zeigen? Oder hat sie in der Zeitung wieder von dänischen
Hetzereien gelesen, die sich auf Löhsumer Grund und Boden abgespielt
haben?“
Annelise schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, diese Lieblingsstoffe
hat sie heute im Schubfach ihres Herzens verschlossen gehalten. Aber
kommen Sie hinunter, wir frieren sonst fest.“
Sie schritten durch den Zuschauerraum einem andern Teile des
Gartens zu. „Was treiben Sie jetzt?“ fragte Brenkhusen.
„Etwas sehr Anziehendes,“ erwiderte sie, „soweit ich überhaupt
etwas treiben kann. Der arme Bodo war in den letzten Wochen sehr
unruhig, hatte allerlei Schmerzen und brauchte mich viel. Wenn er aber
schläft, dann lese ich die Memoiren des Constantin Hauck von der Han-

Iiatis Harlig: Sturmflut.

Kultur in ihrer Phantasie neu zu erwecken. Wie
gut stimmte sie hier mit den Neigungen des
Freundes überein, was für wundervolle Stunden
hatten sie oft miteinander durchlebt in der ge-
meinsamen Freude an alten Büchern, Abbildungen,
Schriftstücken, an Kuriositäten, die sie irgendwo
aufgestöbert. Brenkhusen versenkte sich am lieb-
sten in das ausgehende Mittelalter, in die Blüte-
zeit deutschen städtischen Lebens — Annelise
aber hatte eine ausgesprochene Vorliebe für die
Wende des achtzehnten und die ersten Jahr-
zehnte des neunzehnten Jahrhunderts, für diese
Zeit der grellsten Kontraste und jähesten Wand-
lungen, da sentimentale Spießbürgerlichkeit und
laue Philistertugend unter dem Schutze des bunt
zusammengeflickten Mantels, der sich deutsches
Vaterland nannte, ein friedliches Idyll hinträum-
ten, bis der korsische Advokatensohn, die geniale
Bestie, der kolossale Menschengeist, wie Droy-
sen ihn nennt, über die morsche Welt dahin-
stampfte, alles aus dem Schlafe weckte, alles aus
den Fugen riß und mit frecher Hand die Figuren
des Schachspiels „politisches Europa“ durchein-
anderwarf: „So, nun wollen wir von neuem an-
fangen!“ — dieser große Zerstörer, der doch
keine schönere neue Welt über der zertrümmer-
ten alten aufzubauen vermochte.
„Eine schreckliche Zeit“, sagte Brenkhusen,
dem rechtlose Willkür in tiefster Seele verhaßt
war, dem nur das organisch Gewordene, aus alten
Formen naturgemäß Entwickelte als daseinsbe-
rechtigt erschien.
„Eine wundervolle Zeit“, sagte seine Freun-
din. „Was macht den Lebenswert aus? Die
Fülle und Kraft der Empfindungen. Und an Emp-
findungen ist ,meine Zeit' überreich gewesen.
Ich liebe Napoleon, nicht als Persönlichkeit, aber
als den Geist, der ,stets das Böse will und stets
das Gute schafft1, als den großen Sturmwind,
der über die Erde hingefegt ist, als die Ver-
körperung der furchtbaren Not — die Not hat die
Menschenseelen zur Größe gesteigert, Gefühle
hat sie zur lebendigen Flamme auilodern lassen,
die sonst nur Theatergefühlchen für den Privat-
gebrauch dichtender Jünglinge gewesen sind.“
Wenn sie so sprach, wies Brenkhusen gern
auf die Jahre hin, die dem großen Aufschwünge
gefolgt waren, auf die Zeit der Enttäuschung,
des trüben Abflauens. Das tat er auch heute.
[Fortsetzung folgt.]

noverschen Linie, die ich letzten Sommer in einer Bodenkammer au! Löh-
sum entdeckt habe. Ich sage Ihnen: ungemein interessant! Der Constantin
Hauck ist als junger Mensch mit auf dem Wiener Kongreß gewesen. Als
was, ist mir noch nicht klar. Er muß aber dem Grafen Münster sehr nahe
gestanden haben. Übrigens — den lernt man schätzen. Ich dachte immer,
der Respekt vor England allein hätte es bewirkt, daß Hannover damals bei
der großen Metternichschen Gebietverteilung verhältnismäßig so gut weg-
gekommen ist. Aber der Graf Münster muß doch auch ein ganz ge-
riebener Kopf gewesen sein. Ach, und Gentz! Wie viele charakteristische
Gespräche mit Gentz sind in den Memoiren aufgezeichnet! An Talleyrand
scheint der junge Flannoveraner nicht so herangekommen zu sein. Der
wird mehr mit dem Fernglase betrachtet. Aber das ganze tolle Leben
in Altwien — o, Sie glauben nicht, wie fein der Urgroßonkel den Ton
der Zeit erfaßt hat!“
„Da sind Sie ja ganz in Ihrer Epoche“, meinte Brenkhusen.
Annelise hatte eine Leidenschaft für das Herumstöbern in alten
Familienpapieren, eine Leidenschaft, vergangenes Leben, vergangene

Wer epste f^lleinflug.
Skizze vom Flugplatz von Adolf Abter.

kin unvergeßlicher Moment im Leben des Fliegers ist sein erster Alleinflug.
Mit ungeduldigen Iloffnungswünschen hat er den Augenblick herbeigesehnt,
wo der Fluglehrer ihm sagt: „So, nun sind Sie so weit, daß Sie Ihren
ersten Alleinflug machen können. Morgen früh um 6 Uhr nehmen Sie den
Schulapparat und fliegen ein paar Runden.“
Eine ungeheure Freude ergreift den Flugschüler bei dieser Mitteilung. End-
lich hat der theoretische Unterricht ein Ende! Nun kann er einen Apparat
selbständig steuern! Er darf fliegen! Ohne daß der Lehrer hinter ihm sitzt und
auf jeden Handgriff sorgsam achtet! Der erste Alleinflug . . .
Quälend langsam schleichen die Stunden bis zur angesetzten Zeit für den
Flugschüler dahin. In der Nacht schließt er sicher kein Auge. Eine innere Un-
ruhe hat ihn ergriffen und stolze Hoffnungsträume und Zukunftsbilder durch-
jagen sein Hirn.
Wenn der Alleinflug tadellos klappt, dann ist der Tag bald da, wo er sein
Pilotenzeugnis erwerben kann. Flugpilot . . . Rekordflieger . . . Oh, er wird

[Nachdruck verboten.]
Leistungen vollbringen! Die Zeitungen werden seine Bilder veröffentlichen, er
wird berühmt werden . . . Abstürzen? Ach was . . .
Wenn nur morgen schönes Wetter ist.
Die Morgendämmerung zieht herauf. Der Flugschüler springt aus dem
Bett und eilt ans Fenster. Das Wetter scheint günstig zu werden. Rasch ein
kaltes Bad, damit der Körper frisch ist und die Gedanken klar sind. Hastig
nimmt er eine Tasse Kaffee, dann radelt er schnell nach dem Flugplatz.
Es ist kühl. Der Morgentau perlt auf den Gräsern, und die Sonne beginnt
sich den Durchbruch zu erkämpfen. Der Himmel ist mattgrau, nur an der Stelle,
wo die erwachende Sonne hervortreten wird, ist eine hellere Färbung wahr-
zunehmen. Lässig kommt ein Wagen die Chaussee herauf. Ein Milchwagen.
Die Räder knarren und die Milchkannen stoßen in gleichmäßigem Rhytmus an-
einander. Ein Bauer sitzt auf dem Bock. Hat sich schief in die Ecke gedrückt
und schläft, einen Zigarrenstummel im Mundwinkel, die Zügel lose in der Hand.
Die Pferde kennen den Weg . . .
 
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