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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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13. Heft
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Richard Wagner als deutscher Klassiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0387

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MODERN E KUNST.




j^ic^ard W agner als
dem Augenblick, da Richard Wagners Werke
Vgy in den freien Besitz der Nation übergehen,
scheint der alte Streit um die Bedeutung des Kom-
ponisten, des Dichters, des Philosophen und Kultur-
kämpfers von neuem auszubrechen. Vielleicht ist
niemals um einen bedeutenden Menschen und
Künstler mit solcher Hartnäckigkeit gekämpft wor-
den, wie um Richard Wagner, vielleicht hat niemals
ein Neuerer in so hohem Grade die Leidenschaften
aufgewühlt und alle bösen Instinkte des Bildungs-
pöbels entfesselt, wie er. Unzählige Musikkritiker
und -kenner haben sich seinem Werk gegenüber
für alle Zeiten kompromittiert, ganze Städte wie
Paris und München sind durch ihr Verhalten vor
der Kulturwelt blamiert worden, und König Ludwig
von Bayern hat den Meister aus seiner Nähe ent-
fernen müssen, weil eine Revolution drohte und
der Thron wankte!
So arg wird es heute wohl nicht mehr kommen.
Und wenn wir wiederum eine Schar von Gegnern
gegen die mächtige Persönlichkeit und ihre hin-
reißende Wirkung ankämpfen sehen, so ist es nur
noch ein geistiger Kampf, aus dem sich die end-
gültige Schätzung Richard Wagners, befreit von Einseitigkeiten übermäßiger
Bewunderer und unverständiger Tadler, wahrscheinlich herausentwickeln wird.
Die rechte Schätzung setzt die gründliche Kenntnis seines Schaffens und
Wollens voraus. Seine Opern und Musikdramen werden uns ja jetzt, da die
Schutzfrist abgelaufen ist, v a zahllosen Bühnen im Wettkampf vorgeführt
werden.
Aber das reicht zur Würdigung seines Wirkens und Strebens keineswegs aus.
Hat er selbst sich doch von jeher für mehr als nur für einen Künstler gehalten,
hat er doch sein Streben als das eines Reformators aufgefaßt, dem die Kunst
nur Mittel und Ausdruck einer Erneuerung der europäischen Kultur war. Kein
Wunder also, daß er die Schriftstellerei zu Hilfe nahm, um seinen Willen den
Zeitgenossen verständlich zu machen, und daß er selbst seine gesamte schrift-
stellerische und dichterische Tätigkeit noch bei Lebzeiten in zehn Bänden
sammelte und dem deutschen Volke darbot.
Die gesammelten Schriften Richard Wagners hat nun das Deutsche Verlags-
haus Bong & Co., in richtiger Würdigung ihrer Bedeutung, seiner weitverbreiteten
Goldenen Klassiker-Bibliothek einverleibt*). Da haben wir also Richard Wagner
als deutschen Klassiker! Den Komponisten, der die europäische Musik revolu-
tioniert hat, zugleich als vorbildlichen Dichter und Schriftsteller! Fürwahr eine
seltsame Erscheinung, welche vielleicht in der gesamten abendländischen Kultur-
geschichte nicht ihresgleichen hat. Allein diese Würde, welche ihm 30 Jahre
nach seinem Tode zuteil wird, ist ihm keineswegs von übereifrigen Verehrern
beigelegt worden, sondern sie erwächst von selbst aus der Eigenart seines
Wirkens und Schaffens; und so werden wir uns denn gewöhnen müssen, diese

zehn Bände gesammelte Schriften und Dichtungen, die bisher nur einem kleinen
Kreis von Kennern
und Fachleuten zu-
gänglich waren, künf-
tig neben unseren
Lessing, Goethe und
Schiller zu stellen
und, was wichtiger ist,
zu lesen.
Was verlangen wir
vom Verleger, der
sich das Recht auf
Wagners Werke zu-
nutze macht und das
Vermächtnis des Mei-
sters in Neuausgaben
darbietet? Wir ver-
langen vor allem, daß

*) Richard Wagner
Gesammelte Schriften und
Dichtungen. Herausge-
geben, mit Einleitungen,
Anmerkungen und Regi-
stern versehen von Wolf-
gang Golther. (Goldene
Klassiker-Bibliothek.)
Deutsches Verlagshaus
Bong & Co., Berlin W 57
und Leipzig. 10 Bände in
sechs Leinenbänden 1 5 M.

deu f selber Klassiker.
er Wagners Werke nicht betrachte als herrenloses
Gut, mit dem man nach eignem Gefallen schalten
darf, sondern daß er in ihnen die Größe des Meisters
achte und seinen Willen gelten lasse, als ob er
selbst noch unter uns weile. Vielleicht wird einmal
die Zeit kommen, wo man mit Wagner verfahren
darf, wie heute etwa mit Goethe, dessen Werke
man durch Ergänzung, Auswahl, Neuordnung in fast
unerschöpflichen Variationen sich näher zu bringen
sucht. Vorläufig sind wir noch nicht so weit, und
vorläufig heißt unser größtes Verdienst: Respekt vor
Richard Wagners Werk! Nirgends konnten solche
Forderungen besser aufgehoben sein, als in den
Händen des bekannten Wagnerforschers Geheimrat
Golther in Rostock, dem der Verlag diese dank-
bare Aufgabe anvertraut hat. Unter seiner Leitung
ist hier zum erstenmal der Wagnersche Text unter
philologische Kontrolle gestellt und von den nicht
seltenen Druckfehlern der Originalausgaben gereinigt
worden; aber von dieser notwendigen Nachprüfung
abgesehen, erscheinen die Schriften hier genau in
der Fassung, Auswahl und Reihenfolge, die Wagner
selbst nach reiflicher Überlegung und triftigen
Gründen ihnen gegeben hat. Damit die gesamte bisherige Wagnerliteratur mit
ihren Zitaten auch für diese Ausgabe paßt und unmittelbar danach benutzt
werden kann, ist das Satzbild so eingerichtet worden, daß der vorliegende
Neudruck nach Seiten und Zeilen genau mit der zweiten bis sechsten Auflage

Landhaus Triebschcn bei Luzern
der Originalausgabe übereinstimmt, und daß die Seitenzahlen der ersten Auflage
außerdem am Rande angegeben sind. Dieser Vorzug ist gar nicht hoch genug
einzuschätzen.
Mit alledem aber sah der Herausgeber seine Aufgabe noch keineswegs als
erfüllt an; er hat vielmehr das Leben und Schaffen des Meisters in einer großen
Gesamteinleitung unter Verwertung aller bis jetzt vorliegenden Forschungs-
ergebnisse eindrucksvoll dargestellt. So verfolgen wir denn diesen an drama-
tischen Effekten überaus reichen Lebenslauf von den Leipziger Kinder- und Lehr-
jahren durch die Kämpfe und Nöte eines Provinztheater-Kapellmeisters in die
Pariser Sorgenzeit, von da nach Dresden in die angesehene Stellung eines Hof-
kapellmeisters, machen die Revolutionstage und die Flucht in die Schweiz mit,
ziehen in das Asyl auf dem Grünen Hügel ein und sind Zeugen der Liebe zu
Minna Wesendonk und des schmerzvollen Entsagens. Wir begleiten ihn durch
neue Wanderjahre nach Wien und München in die Freundschaft König Ludwigs,
erleben das Eingreifen Cosimas und das Idyll von Triebschen, und sehen endlich
dieses große Leben durch das Werk von Bayreuth gekrönt. In den folgenden
Abschnitten seiner Einleitung führt der Herausgeber uns in das literarische,
dichterische und musikalische Werk Wagners ein und gibt außerdem in reich-
lichen Anmerkungen zum erstenmal eine ausführliche Erläuterung der Wagner-
schen Schriften. Verschiedene Register erhöhen die Brauchbarkeit, 24 Bilder-
beilagen in Kunstdruck nebst zwei Faksimilezugaben bieten eine erwünschte
Ergänzung. Das Werk ist nach den Grundsätzen der Goldenen Klassiker-
Bibliothek mit klaren Typen auf weißes Papier gut lesbar gedruckt und in sechs
geschmackvolle Bände gebunden. Wir dürfen sonach erwarten, daß es bald in
keinem Hause mehr fehlen wird: was wir an ihm besitzen, ist nichts geringeres als
eine mustergültige Ausgabe von Wagners gesammelten Schriften und Dichtungen.

Richard Wagner.
Nach einer Photographie, 1882, im Besitz des Wagner-Museums zu Eisenach.

Mathilde Wesendonk. Nach dem Gemälde von G. Dorner.
Mit Genehmigung des Verlags F. Bruckin'ann, München.

XXVIII. 13. Z.-Z.
 
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