Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI issue:
16. Heft
DOI article:
Kayssler, Friedrich: Gedanken über Shakespearedarstellung und ihre Wirkungen
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0465

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
19$

^cdanfjcn iißer ^f|al|espßarßdarskffimg und ifjre Wn ljimgen.

Von Friedrich Kayßler.

enn ein unbefangener, künstlerisch empfindender Mensch, sei er Schaffender
oder Genießender, an irgend etwas aus den Bühnenwerken Shakespeares
denkt, so ist damit — ich glaube es nach meinen Erfahrungen annehmen zu
dürfen — ein Grundgefühl von urwüchsiger Kraft und Vielgestaltigkeit verbünden.
Ich meine damit nicht unmittelbar die dichterische Kraft Shakespeares, obwohl
sie natürlich letzten Endes die Quelle von allem ist, worüber hier gesprochen
werden kann -— ich meine eine charakteristische Kerneigenschaft aller Shal-ce-
speareschen Gestaltungen. Man hat, wenn man sich ihnen nähert, das Gefühl,
als hingen sie alle, obwohl scheinbar frei und als Einzelerscheinungen losgelöst
in der Sphäre der Kunst stehend,
durch eine unzerstörbare Nabel-
schnur auf geheimnisvolle Weise mit
einem tieferen Urgründe des Welt-
chaos zusammen, als die meisten
starken dichterischen Schöpfungen.
Es wohnt ihnen allen eine unbe-
rührte, prächtige Wildheit inne, die
unaufhörlich neu und lebendig aus
dem Schoße längst versunkener Ur-
bilder gespeist wird, die mit Shake-
spearescher Lebensrealität keines-
wegs erschöpfend bezeichnet ist, für
die ich, um sie gefühlsmäßig anzu-
deuten, keinen anderen Ausdruck
finde als chaotisch.
Ich empfinde Shakespearesche
Gestalten weniger fest Umrissen als
die der meisten anderen Dramatiker:
die einzelne Gestalt läßt sich von
verschiedenen Gesichtspunkten aus
auf vielerlei Arten deuten und an-
schauen und verliert doch niemals
ihren Kern.
Es war eine tiefe künstlerische
Weisheit und ungebrochene Kraft-
fülle, die ihren Gestaltungen einen
solchen Reichtum an Vieldeutigkeit
mitgeben konnte, daß sie noch heute
nicht zu traditionellen Formen er-
starrt sind, sondern sich ihren
geistigen, helldurchsichtigen, halb-
festen halbflüssigen Zustand im
tiefsten dichterischen Sinne be-
wahrt haben.
Eine Bestätigung hierfür scheint
mir in dem in den verschiedensten
Entwicklungsstadien des Theaters
wiederkehrenden Bewußtsein zu
liegen, bei Shakespearedarstellungen
jedes szenischen oder kostümlichen
Aufwands entraten zu können. Ich
glaube auch, daß die offizielle „Shake-
spearebühne“ mit dieser Grund-
auffassung verwandt ist und nicht
bloß zur Vereinfachung des Szenen-
wechsels erfunden wurde.
Aus dem Respekt heraus vor der Vieldeutigkeit Shakespearescher Figuren
und aus der Freude an ihnen hat man es wohl bei der Bühne auch zu allen
Zeiten als etwas Besonderes empfunden, Shakespeare zu spielen. Man spricht
oft mit Lächeln von der Sucht des. Schauspielers, neue Rollenauffassungen um
jeden Preis zu prägen. Shakespeare gegenüber ist ein Reichtum an Auffassungen
natürlich und am Platze. Hier kann wirklich fast jeder etwas Neues, Frisches
geben und immer Shakespeare zur Ehre. Darum ist es im Interesse der Schau-
spielkunst sehr zu beklagen, daß sich in unserer Zeit dem früher selbstver-
ständlichen, frischen, wenn auch respektvollen Wagemut, Shakespeare zu spielen,
bedenkliche Hemmungen in den Weg stellen.
Max Reinhardts verdienstvolle Shakespearevorstellungen haben durch
ihren szenischen Bilderreichtum, den eine höchst bedenkliche Berliner Sen-
sationsgier im Laufe der Jahre ins Unübersteigliche hineingehetzt hat, einen
dekorativen Maßstab geschaffen, vor dem die meisten Bühnen in Mutlosigkeit
versinken. Hier ist das Unglaubliche geschehen, daß durch vorzügliche
Leistungen des einen nicht Anregungen, sondern Hemmungen für die anderen
entstanden sind.

-— [Nachdruck verboten.]
Wenn Max Reinhardt Berlin prachtvolle Shakespeareabende brachte, so
war das ein Grund mehr, sich an Shakespeare zu freuen und ihm möglichst
viele und immer neue und vielgestaltige Auferstehungen zu bescheeren. Statt
dessen hieß es: was kostet die Dekoration? Oder: so wie Reinhardt können
wir es doch nicht; oder: Reinhardt nachahmen wollen wir nicht; da aber das
Publikum den Dekorationsaufwand verlangt und wir ihn nicht übertrumpfen
können, lassen wir es lieber ganz.
Auf diese Weise wird im allgemeinen weniger Shakespeare gespielt als je
und — ich muß es je öfter, je stärker sagen — es ist eine Schande, wie sich
die deutsche Bühnenkunst durch die
sinnlichen Forderungen eines phan-
tasiefaul gewordenen Publikums
knechten und von ihren geistigen
Zielen abschneiden läßt, auf deren
Erfüllung ein mindestens ebenso
großes, wahrhaft würdiges, aber
bescheideneres und zurückhalten-
deres Publikum gesunder geistiger
Elemente mit noch ungeschwächter
Phantasiekraft seit Jahren wartet.
Es kann einem Schauspieler
der heutigen jungen Generation ge-
schehen, daß er im Laufe seiner
ersten zehn Bühnenjahre, also in
seiner entwicklungskräftigsten Zeit,
wenn er zufällig nicht in die Provinz
kommt, sondern in der Großstadt
aufwächst, selbst an den besten
Theatern niemals eine Shakespeare-
rolle zu spielen bekommt, und
einzig und allein darum, weil die
deutschen Bühnen von dem Wahn
beherrscht werden, ohne kostspie-
liegen Szenenaufwand sei es unzu-
lässig, Shakespeare zu spielen.
Dieser Zustand ist tieftraurig
und kann nur eines Tages dadurch
geendet werden, daß durch eine
Reihe schlichter Aufführungen be-
wiesen wird, daß Dramatiker Dra-
matiker und Shakespeare Shake-
speare bleibt, mit oder ohne De-
korationsaufwand.
Auch ohne dieses Phantom der
dekorativen Pflicht werden immer
noch genug Gründe übrig bleiben,
die es verhindern, daß eine Über-
produktion an Shakespearevorstel-
lungen zustande kommt, wenigstens
in einer Stadt wie Berlin. In der
bildenden Kunst wird es allgemein
als natürlich empfunden, daß sich
die verschiedensten Künstler gleich-
zeitig an demselben alten Vorwurf
versuchen. Bei der Bühne, die von
der Unrast des Tageslebens viel
unmittelbarer beeinflußt ist, wird aus naheliegenden geschäftlichen Gründen die
Aufführung des gleichen Stückes an verschiedenen Theatern vermieden. Auch
wenn es geschäftlich möglich wäre, ließe es die ganze Unruhe und Sprunghaftigkeit
der heutigen Psyche nicht zu. Es ist sehr schade, daß es nicht anders sein kann.
Die Kunst büßt vieles dabei ein. Mit wieviel größerer Energie könnte sich
die Bühnenkunst fortentwickeln, wenn in einer großen Stadt mehrere ernste
Theater sich nicht scheuten, hin und wieder zu annähernd derselben Zeit an
demselben Vorwurf zu arbeiten, eines unabhängig vom anderen. Es würden
sich manche Mängel der Auffassung, die Modeströmung und Tagesgeschmack
erzeugen, binnen kurzem von selbst herausstellen und abnutzen, während sie
so durch Jahre und Jahrzehnte als Gewohnheiten oder vermeintliche Traditionen
hingeschleppt werden.
Welche Konzentrationskraft könnte sich in einem Publikum erzeugen,
das es nicht langweilig, sondern interessant fände, den Macbeth heute da und —-
nicht morgen — in zwei WTochen dort zu sehen; interessant — aber wohl-
gemerkt nicht aus Neugier, den Macbeth in immer möglichst neuer und ver-
blüffender Form dargeboten zu finden, sondern aus dem Wunsche, immer tiefer



Martin Brandenburg: Alu Mummelsee.
 
Annotationen