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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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18. Heft
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Aeckerle, Helene: Die Vagabundenkreatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0533

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232

MODERNE KUNST.

Dann saßen sie einige Augenblicke ganz still und beäugelten das Ding, das
statt in Ägypten in einer Menschenbrust wohnte.
„Wie sieht es denn in einer Menschenbrust aus?“ nahm die dreiste Schwalbe
die Unterhaltung wieder auf. „Wohnt es sich dort angenehm? Ach bitte erzählen
Sie uns etwas davon! . . . .“
Aber die Fremde wollte nicht. Sie saß schweigend da und fror. Die jungen
Schwalben sahen teilnehmend und erwartungsvoll zu. . . . „Warum sind Sie
denn eigentlich aus der Menschenbrust fortgezogen ?“ fragte plötzlich eine ganz
kleine Schwalbe, die vor Neugier platzte .... „wenn es Ihnen dort doch so
gut gefiel“ —-—
„Ach,“ sagte das Ding sehr ernsthaft, „das ist eine lange und traurige Ge-
schichte, die man nicht jedem erzählen kann . . .". Da ist eben kein Raum mehr
für mich! Was drängt sich nicht heutzutage alles in eine Menschenbrust — ach
Gott! Krethi und Plethi!“
„Sehr richtig,“ bemerkte die Schwalbenmutter von ihrem erhöhten Stand-
punkt aus. Krethi und Plethi! So etwas dürfte es gar nicht geben!“
Das Ding sah ein wenig erstaunt nach oben und fuhr dann unbeirrt fort:
„Unglücklicherweise haben sie alle viel mehr Kräfte als ich. Da ist diese
große knochige Sorge, dieser heimtückische Neid, diese zähe Mutlosigkeit, diese
freche Geldgier — und Gott mag wissen wie sie alle heißen! — Sie treten und
beißen sich untereinander und mich drängen sie einfach heraus.“
„Und die Menschen?“ fragte die kleine Schwalbe, die durchaus nicht auf den
Kopf gefallen war. „Lassen die sich denn das gefallen?“
„Ach, das ist ja das Unglück,“ sagte die Fremde kummervoll „sie können
sich nicht wehren. Sie müssen tun, was jene ihnen befehlen.Ich bin sozu-
sagen obdachlos geworden!“
„Aber das ist doch schändlich!“ sagte die kleine Schwalbe, deren Merz
bereits vor Zärtlichkeit für die Fremde zu hüpfen begann. „Aber wissen Sie
was? Wenn die Menschen Sie nicht mehr haben wollen, dann könnten Sie viel-
leicht in meiner Brust wohnen?“
Die Fremde lächelte etwas mitleidig. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber
ich glaube, das wär’ mir ein wenig zu eng. Ich bin eben doch an eine Menschen-
brust gewöhnt!“
„Nein, nein,“ fuhr sie begütigend fort, da die kleine Schwalbe sich gekränkt
aufrichtete, ich danke Ihnen bestens. Es wäre gewiß sehr nett in Ihrer Brust:
„Aber ich habe beschlossen, daß ich fortan draußen wohnen will — verstehen
Sie — in gar keiner Brust mehr, ganz allein und frei — in der Natur.“ Damit
spreitete das Ding seine Flügel aus und entschwand im Dickicht des Waldes.
„Oh“, sagte die zärtliche kleine Schwalbe bedauernd. Sie wär’für ihr Leben
gern hinter der schönen Fremden hergeflogen, um zu erspähen, wo sie denn
eigentlich ihre Wohnung aufschlug. Aber die gestrenge Mutter befahl, daß sie
mit dem Gezwitscher aufhören und sich nicht weiter um die Vagabundenkreatur
kümmern sollten. Sie mußten die Köpfe unter die Flügel stecken und so tun,
als ob sie schliefen, bis sie vor lauter Anstrengung wirklich einschliefen. — —
Als der Morgen graute, erwachten sie von einem wunderbaren Geräusch.
Es war, als ob ein Singen und Klingen, ein Geigen und Flöten die Luft erfüllte.
„Was ist denn das?“ fragten die jungen Schwalben, noch ganz verschlafen.
„Seid nur still,“ sagte die Schwalbenmutter, die selbst sehr aufgeregt war,
„das werden wohl die Engel im Himmel sein! Es ist doch Ostern heute!“
Die jungen Schwalben spähten neugierig zum Himmel empor, aber es war
nichts Besonderes zu sehen.
Der Himmel war noch mit einem grauen Schleier verhangen, über den
See war gleichfalls ein Schleier ausgebreitet, sogar die Bäume und Sträucher
waren in Schleier eingewickelt.Hinter dem Schilf aber begann es rötlich
zu glänzen. Und nun wurden sie alle im Walde unruhig. Die Bäume steckten
die Köpfe zusammen; der See dehnte und streckte sich, aus dem Schlaf
erwachend, so daß er mit seinem feuchten Arm über das Schilf hinausgriff . . .
Es wurde Tag! Und plötzlich sahen die Schwalben, daß das seltsame Ding
wieder da war: mit ausgebreiteten Flügeln flog es der aufgehenden Sonne entgegen.
„Guten Morgen, guten Morgen,“ schrien die jungen Schwalben, die wie
berauscht um die Sonne taumelten. „Bist du auch schon wach?“
Die Fremde lachte, daß der Wald davon widerhallte.
„Wer hat euch denn geweckt, ihr dummen Dinger, wenn nicht ich!“ Und
damit setzte sie den Fuß auf den grünenden Boden und begann sich in einem
tollen Wirbel zu drehen. Die Flügel sausten durch die Luft, daß es aussah.
als ob ein goldenes Rad sich fortwährend überschlüge. Der Boden fing an zu
zittern, die Bäume drehten sich im Kreise, der See spritzte hoch auf, ja die
Sonne selbst schien ins Wanken zu geraten.
„Nein, so etwas ist doch noch nicht da gewesen“, sagte die Schwalben-
mutter und begann sich widerstrebend gleichfalls im Kreise zu drehen.
„Hier ist es gut sein!“ jubelte das seltsame Ding,
Hier habe ich Raum. Hier will ich bleiben!“
„Ja, bleibe“, riefen die alten Bäume, die den
Kopf völlig verloren hatten. „Hier ist Raum ^
genug“, und sie rückten stolpernd
und schwankend an, um das ^^4 / (
seltsame fremde Ding ^
ganz und gar ein-

zuschließen.


„Bleibe, bleibe“, piepsten die Gräser, die, außer sich vor Entzücken, immer
an der gleichen Stelle auf und nieder hopsten.
„Bleibe, bleibe“, riefen die Blumen, die vor lauter Lachen über die Sprünge
der alten Bäume Tränen vergossen.
„Bleibe, bleibe“, schrien die Hasen, die sich umfaßt hielten und wie
besessen hin und her galoppierten.
„Bleibe“, rief die Sonne und jagte ihre Strahlen hinter der Flüchtigen her.
„Sie muß doch aus guter Familie sein“, meinte die Schwalbenmutter, die
sich ganz allein unentwegt in die Runde drehte. „Wenn die Sonne selbst sich
mit ihr einläßt.“
Und sie schoß auf das Ding zu, pickte ihm herablassend mit dem Schnabel
auf die Schulter.
„Ja, die Sphäre,“ pustete sie, „die Sphäre macht alles."
Und dann fuhr sie fort, sich um sich selbst zu drehen.
Ja, das war ein Ostermorgen! So etwas hatte sich noch nicht zugetragen,
solange die Welt bestand.
Mit einem Mal aber war alles vorüber; die Bäume standen wieder starr
und regungslos, die Sonne hing wie festgenagelt am Himmel, der See lag wie
tot in seinem Bett; die Gräser duckten sich, die Blumen hörten auf zu lachen
und die Hasen purzelten den Abhang hinunter. Das seltsame Ding aber entfloh
in das Dickicht des Waldes — da kam ein Mensch!
Und was für ein Mensch! Ein Mensch, wie ihn die Schwalbenmutter in
den Tod nicht leiden konnte. So einer, der so frech in den Himmel hinauf-
starrte, als ob er alle Wolken mit seinem Blick durchdringen wollte, so einer,
der mit Bäumen und Blumen umging, als ob er ihresgleichen gewesen wär’, der
ihr, der alten Schwalbe, mit der Hand zuwinkte und sagte: „Du, Schwalbe,
guten Morgen!“ .... So einer, der ganz genau wußte, wo die Vögel ihre Nester
bauten und die Veilchen ihre Kinder bekamen, so einer, für den es kein Ge-
heimnis draußen gab — kurz und gut, wie die Schwalbe zu sagen pflegte: eine
richtige Vagabundenkreatur.
Dieser Mensch kam daher, als ob er es für sein gutes Recht hielte, am
frühen Ostermorgen in den Wald einzudringen. Ja, er nahm sogar noch seinen
Hut ab, als träte er in sein eigenes Haus. Dann streckte er die Arme von sich
und rief ganz laut, daß es durch den Wald schallte: „Welt, wie bist du
schön!“
Danach sagte er noch etwas Langes und Breites, das die Schwalbenmutter
nicht ganz verstand, das aber genau so rauschte, wie zuvor die Bäume gerauscht
hatten, das so spritzte und schäumte wie der See, das so glühte wie die Sonne
und so zwitscherte wie sie selbst und ihre Jungen es taten.
Als er damit zu Ende gekommen war, ergriff er seinen eingedrückten Hut
und schleuderte ihn hoch in die Lüfte, so daß die Schwalbenmutter entsetzt auf
einen höheren Ast floh.
Die Schwalbenkinder hingegen schossen jählings auf den Fremden zu.
„Guten Morgen, guten Morgen,“ schrien sie ihm frech in die Ohren,
während sie dicht über seinem Kopf dahin strichen.
Das machte den Frühlingsberauschten vollends toll.
„Oheio, oho,“ rief er mit den Händen nach den Schwalben haschend, „ist
das eine Lust!“ Und er rannte wie besessen den Abhang hinunter. . . . Seine
Gestalt verschwand hinter den Büschen, man hörte nur noch seinen froh-
lockenden Ruf: „Oheio, oho!“
Und nun kam das seltsame Ding plötzlich wieder zum Vorschein.
„Oheio, oho“, rief es dem enteilenden Menschen nach. Alsdann begann es
gleichfalls den Abhang hinunterzulaufen — wie besessen — immer hinter dem
Menschen her.
„Bleib doch bei uns“, raunten die Bäume und versuchten das schöne Ding
mit ihren Zweigen aufzuhalten. Aber es glitt behende zwischen den Ästen
durch, hüpfte leichtfüßig über die Gräser fort, die sich um seine Füße schlingen
wollten.
„Bleib doch!“ grollte der See und warf ihm eine Welle in den Weg.
„Bleib doch, bleib“, schrien die jungen. Schwalben voller Eifersucht —ja
selbst die alte Schwalbe, die noch ein wenig schwindlig war, taumelte heran
und flötete: „Jawohl, bleiben Sie.“
Aber die Vagabundenkreatur war nicht zu halten.
„Oheio, oho“, rief sie noch einmal hinter dem Menschen her.
Der blieb stehen, als horchte er auf etwas, das er schon lange ersehnt
hatte. Seine Augen leuchteten, als ob sie allen Glanz der Sonne aufgesogen
hätten, seine Brust hob und senkte sich wie der See frühmorgens im Sonnen-
nebel.
Das Ding hatte ihn erreicht. Es sprang ihm auf die Schultern, klammerte
die Arme um seinen Nacken und spreitete die Flügel aus, daß sie wie
Strahlenkranz um den zerdrückten schwarzen Hut standen.
„Oheio, oho“, rief der Mensch noch einmal, wie trium-
phierend und verschwand in der Niederung . . .
Droben im Walde aber ward es wieder feier-
lich, ernst und still wie zuvor: Die
Freude, die Vagabundenkreatur,
hatte wiederWohnung
in der Menschen-
brust gefunden.
 
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