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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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22. Heft
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Lacroisade, Henri: Der Tanz im Wandel der Zeiten
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0666

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27§

MODERNE KUNST.

Selbst bei den Festen des heiligen
Johannes fanden choreograpische Zwi-
schenspiele statt, und dieser Brauch ver-
breitete sich bald derartig in der ganzen
Christenheit, daß man mit Recht die
Erwartung hegte, die frommen Weisen
würden sich mit der Zeit zu einer hohen
Kunst entwickeln. Doch es sollte anders
kommen. Dieselben kirchlichen Autori-
täten, die den Tanz in das Zeremoniell
aufgenommen hatten, verdammten ihn
später und versuchten, ihn aus der
Liturgie zu verbannen. Papst Zacharias
schleuderte den Bann gegen den Tanz
in jeglicher Gestalt, und sein Abschaf-
fungsdekret findet sich in den Synodal-
bestimmungen des Bischofs Otto von
Paris. Es ist da zu lesen: „Wie aus
den Synodalstatuten der Diozöse Beau-
vais vom Jahre 1554 hervorgeht, ließ
man, während der Priester die erste
Messe las, Narren, Komödianten und
andere Possenreißer in die Kirche hinein.
Diese Unsitte wird aufs strengste ver-
boten, ebenso wie die Aufführung von
Tanzweisen und Theatervorstellungen in
Gotteshäusern oder auf Kirchhöfen.“
Dasselbe Verbot findet sich in den Sy-
nodalstatuten der Diozöse Saissons aus
dem Jahre 1561. Die Tänze wurden
zuweilen vor der Kirche abgehalten, aber
auch gegen diesen Brauch richtete sich
der Zorn des Klerus, wie aus einem vene-
dischen Erlaß vom Jahre 1555 ersicht-
lich ist. Trotz aller dieser strengen Ver-
bote wurde der schändliche Unfug denn-
noch in einigen Landgemeinden un-
verändert fortgesetzt und auch tatsächlich stillschweigend geduldet.
Dem Bannfluch des Papstes folgten zahlreiche Schmähschriften, und die ge-
maßregelten Tänzer hätten wahrscheinlich darauf verzichten müssen, ihre Belusti-
gungen wieder aufzunehmen und fortzusetzen, wenn nicht der Volkswille stärker
gewesen wäre als das Veto der Prälaten oder der Hohn der Pamphletisten. Trotz
aller Schwierigkeiten konnten sich die vielgeschmähten Tanzbelustigungen doch
behaupten und wurden besonders bei Hochzeitsfeierlichkeiten und höheren Kirchen-
festen nach wie vor geduldet: ja, der Domherr von Langres, Jean Tabouret, gab
im Jahre 1584, im Alter von 69 Jahren, noch eine Abhandlung über denTanz heraus.
Während der folgenden drei Jahrhunderte wurden diese Tanzvergnügungen
bei großen Prozessionen und an hohen kirchlichen Feiertagen beibehalten. Im
Jahre 1566 tanzte man bei solchen Gelegenheiten in Florenz die Saltarella, die
Pavane, die Sizilienne, die Gigue, die Gaillarde, die Moresca und den Mattacino
sehr graziös und in höchster Vollendung. Ein wenig umgestaltet und mehr dem
weltlichen Charakter angepaßt wurden diege Tänze die ersten Vorläufer des späteren
Opernballetts. Die allmähliche Wandlung war eine Folge der geistigen Aufklärung,
der langsamen Abschwächung des Glaubens unter dem wachsenden Einflüsse
humanistischer Strömungen, welche die Wiedergeburt der antiken Kultur herauf-
führen sollten. So konnte es geschehen, daß die frommen Tänze, nachdem sie
ihres ursprünglichen Charakters entkleidet waren, als Einlagen bei Vorstellungen
wie Ariosts „Suppositi“, Bibienas „Calendria“ und Monteverdes „Orfeo" sowie
schließlich auch bei jenen Märchenspielen figurierten, die Heinrich II. und Karl IX.
zu Ehren in Frankreich veranstaltet wurden.
Roger de Lassus war der Schöpfer des ersten Balletts, welches zu Ehren der
in Begleitung des Herzogs von Anjou nach Frankreich gekommenen Polen ver-
anstaltet wurde. Baldazarini hatte dieses glänzende Ballett, das etwas durchaus
Neues darstellte, in Szene gesetzt. Diese Anregung erlebte, wenn man den Chronisten
jener Epoche Glauben schenken darf, einen enormen Erfolg und bildete tatsächlich
die Grundlage für das Theaterballett, das unter Heinrich TV. so stark in Aufnahme
kommen sollte. Er ließ allein achtzig derartige Aufführungen einstudieren.
Ludwig XIII. komponierte sogar selbst ein Ballett: „Le Ballet de Merlaison“, nach-
dem er 1617 in der Verkleidung eines Dämonen in Renaults „Delivrance“ in höchst-
eigener Person mitgewirkt hatte. Dem Beispiel des Königs folgte der Herzog
Nemours, er improvisierte 1830 das „Ballet des Goutteux“. Mehrere andere
Grandsseigneurs ließen gleichfalls ihrer Phantasie freien Lauf; sie wetteiferten
förmlich miteinander und suchten sich gegenseitig an Kühnheit zu übertreffen,
bis schließlich alle diese Darbietungen einen so ausschweifenden und frivolen
Charakter angenommen hatten, daß sie in nichts mehr an die Gebetschritte und
Engelreigen von ehedem erinnerten.
Richelieu sah in der Einführung der allegorischen Balletts, deren Themen jeden
Rückfall in die Laxheit der Sitten gänzlich ausschlossen, ein wirksames Mittel zur
Abhilfe gegen die herrschenden Mißstände. Es wäre immerhin mit einigen

Schwierigkeiten verbunden gewesen, bei
einer Aufführung die 1635 unter dem
Titel: „Les quatres Monarchies chre-
tiennes“ in Szene ging, einen indezenten
Schritt zu wagen oder irgend eine an-
stößige Figur einzuschmuggeln.
Anna von Österreich war nicht allzu
streng und prüde. Unter ihrer Herrschaft
nahm der Kunsttanz wieder jene Formen
sinnlicher Fröhlichkeit an; doch diese
Begeisterung sollte nicht von langer
Dauer sein. Ludwig XIV. nahm die
Leitung der Theater ganz in seine Hand.
„La Mascarade de Cassandre“ (1651), „Le
Caroussel“ (1662), „Le Ballet de la Pro-
sperite des Armes de France“, „Thetis et
Pelie“ (1654), „Le Triomphe de Bacchus"
waren infolge des bei diesen Festlich-
keiten entfalteten Luxus der Kostüme
und des Reichtums an Schmuck als
höchst imposante Kundgebungen in ihrer
Art zu beze'chnen. Sie gingen unmittel-
bar der Errichtung der Großen Oper
voraus, die ihre Tore im Jahre 1671 mit
Perrin und Camberts „La Pomone“
unter der Regie Beauchamps eröffnete.
Dieser Beauchamp ist der erste Cho-
reograph, der in der Geschichte des
Tanzes als besonders markante Persön-
lichkeit genannt zu werden verdient.
Geleitet durch . eine gerdazu staunens-
werte intuitive Sachkenntnis und einen
scharfausgeprägten Kunstsinn erspähte
er mit Kennermiene auf dem ersten Blick
diejenigen Partien eines Stückes, aus
denen sich ein wirkungsvolles Ballett
schaffen ließ. Die Biegsamkeit seines
Geistes, die Beweglichkeit seiner Einbildungskraft und die Treffsicherheit seines
Geschmacks lenkten die Aufmerksamkeit Lullis, Molieres und Quinaults sehr
bald auf ihn und ließen sie seine Mitarbeiterschaft suchen.
Die Heranziehung Beauchamps zum Mitarbeiter der berühmtesten Künstler
jener Epoche ist ein Ereignis, das ebenso sehr ins Gewicht fällt, wie die Unter-
drückung des Balletts unter seinem Regime und die Mitwirkung des weiblichen
Elements auf der Bühne, während bisher alle Rollen durch Männer zur Darstellung
gebracht worden waren. Dabei ist besonders in Betracht zu ziehen, daß Beauchamps
der erste Choreograph war, der es verstand, eine besondere Stimmung in den Tanz
zu legen. Und so errang denn die leichte Muse unter seiner Herrschaft großen Erfolg.
Von seinen Nachfolgern Louis Pecour und de Ballon läßt sich leider nicht dasselbe
behaupten. Sie, haben beide, wie es scheint, in übertriebener Eitelkeit mehr ihre
eigene Person als die Kunst in den Vordergrund gestellt. Der wirkliche Nachfolger
Beauchamps, der sich- ernstlich bemühte dem Ballett ein Relief zu geben und es
zu einer wahrhaft künstlerischen Darbietung auszugestalten, war Lulli, der größte
Musiker jener Epoche. Alle seine Schöpfungen — es sind deren von 1653
bis 1685 eine recht stattliche Anzahl — paßten sich dem Charakter des Kunsttanzes
an. Zu jener Zeit wurde das Ballett eine wahre Augenweide. So erklärt sich auch
die große Vorliebe, die es nicht allein während des ganzen 18. Jahrhunderts, sondern
auch unter Ludwig XVI., unter dem Kaiserreich und während der Restauration
genoß. Gleichermaßen wurde die Wirkung der Kunstdarbietungen durch die
Fertigkeit der Künstler und Künstlerinnen erhöht. Es sei hier nur an Mademoiselle
Subligny, la Camargo, Mlle Lanny, an die Damen Heinet und Ferville erinnert,
die in Grazie und Leichtfüßigkeit miteinander rivalisierten. Die Chronisten jener
Zeit haben diesen Königinnen des Balletts, die das Publikum in einen wahren Taumel
begeisterter Bewunderung hineinzuziehen wußten, rühmliche Anerkennung gezollt.
Neben dem Lob der erstaunlichen Geschicklichkeit, das die Hauptdarsteller ernteten,
wurde jedoch auch damals schon darauf hingewiesen, daß die Inszenierung sowie
die Wahl der Motive der Aufführungen doch zuweilen sehr zu wünschen übrig ließen.
Cabuzac,: Raymond de Saint-Mard und selbst Jean Jacques Rousseau forderten die
Entfernung des grotesken Flitterwerkes und der formlosen Masken, mit denen
die darstellenden Künstler und Künstlerinnen bekleidet waren, sowie die Fort-
lassung der Triumphzüge, in denen die Künstler in unbeweglicher Paradehaltung
vorbeidefilierten.
Für eine verständnisvolle Kritik konnte die Ästhetik des Balletts nur durch
solche Transformationen gewinnen, die geeignet schienen, Leben und Vielgestaltig-
keit in die bisherigen Darstellungen zu bringen, welche durch zahllose, überflüssige
szenische Hilfsmittel überlastet waren und der Begeisterung der Tänzer sowohl, als
auch der Harmonie des Ganzen mehr Schaden als Nutzen brachten. Da wirkte das
Beispiel der Mademoiselle Salle im Jahre 1729 geradezu befreiend und vorbildlich.
Ohne Maskierung und ohne Reifrock hatte sie mutvoll die Rampe betreten; nur
mit einem griechischen Mousselingewand bekleidet, erschien sie in offenem Haar,


Paul Segui n-Bcrtault: Tänzerin auf dem Parkett. Aus der Pariser Oper.
 
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