Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI Heft:
22. Heft
DOI Artikel:
Lacroisade, Henri: Der Tanz im Wandel der Zeiten
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0667

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
MODERNE KUNST.

279

an der Seite ihres ebenfalls unmaskierten Kavaliers. Ihre Kühnheit fand in Paris
zunächst keinen Anklang, sie erzielte dafür aber in London einen um so stürmischeren
und nachhaltigeren Erfolg.
Es war höchste Zeit, daß man daran dachte, die Ballettkostüme von all dem
Plunder, mit dem sie überladen waren, zu befreien. Die verständige Kritik wies
auf die Freudlosigkeit der Künstler und Dilettanten hin, geriet jedoch leider mit
der öffentlichen Meinung, die an den alten Traditionen hing und jeder Neuerung
feindlich gegenüberstand, in ernsten Konflikt. Auch hier brauchte die allmähliche
Wandlung Zeit, und erst am Ende des 18. Jahrhunderts trat mit dem Erscheinen
der berühmten Meister jener Epoche — es sei hier nur an Servandoni,. Algieri, Gillot,
Boucher, Gissel, Meissonier, Challes und Bocquet erinnert — eine fühlbare Änderung
der Verhältnisse ein. Dem gefeierten Noverre gebührt vor allen Dingen das Verdienst,
alle seine Kräfte in den Dienst der Reformen gestellt zu haben. Sein radikales
Programm lautete: Fort mit den scheußlichen Masken und lächerlichen Perücken,
fort mit den unbequemen Reif rocken und all dem lästigen Firlefanz, der Geschmack,
nicht die Routine sollen entscheiden, wir brauchen bessere Kostüme, die malerisch
und lebenswahr zugleich wirken, Bewegung und Handlung müssen die Szene be-
herrschen und dem wahrhaft künstlerischen Tanze, dem Seele und Ausdruck inne-
wohnt, müssen jene durch Übung erlangten mechanischen Körperbewegungen
weichen.
Dieses Programm rief höchste Begeisterung hervor. Noverre vermochte es
indessen nur teilweise zu realisieren, aber seine Prinzipien überlebten ihn. Seine
Schüler Dauberval und Bocquet waren in ihren Neuerungen so glücklich, daß das
Ballett bald eine hohe Vollendung erreichte, und mit Recht wird das 18. Jahrhundert
das „goldene“ Zeitalter des Tanzes genannt.
Da glänzen die Namen einer Salle, Allard, Lany, Lepic, Theodore, Chamcroy,
Clotilde, Gardel, Hcynel und endlich einer Guimar, die von Concourt „Die Grazie
des 18. Jahrhunderts“ genannt wird, am Himmel der Ballettkunst. Unter den
Männern verdienen Dupre, Javillier, Dauberval, Lany, Dumoulin, Gardel und
Vestris genannt zu werden. Unter den Damen hätte ich beinahe die Pelissier, die
Petitpas, die Duval du Tillet und die Camargo vergessen. Die Namen dieser
Ballettköniginnen waren mit Ereignissen verbunden, die in ihrer Tragweite von
hoher Wichtigkeit werden sollten. Es sei hier nur einiges davon erzählt: Am 15. Juni
1731 hatte Gruer, der Direktor der Großen Oper, einige Freunde eingeladen und
diese Damen gebeten, zur Erheiterung seiner Gäste bei der kleinen Festlichkeit
mitzuwirken. Nachdem das Festmahl beendet war, begann der Tanz. Es war sehr
heiß, und die Camargo entledigte sich unter allgemeiner Zustimmung und Heiterkeit
der Gäste nach und nach ganz ungeniert ihrer Gewänder. Diesem Beispiel folgten
die anderen Damen, und wenn man den Berichten Glauben schenken darf, be-
hielten sie alle verrückterweise nur — die Tournüre an.
Durch die halbgeöffneten Fenster schaute das Publikum diesem ausgelassenen
Treiben zu, das noch lange nachher
den Hauptgesprächsstoff in der Stadt
und bei Hofe bildete. Ludwig XV.
glaubte wegen dieses Skandals ein-
schreiten zu müssen. Er ließ sich
Gruer rufen, nahm ihn ernst ins Gebet
und entzog ihm seine Privilegien.
Das Ballett war im 19. Jahr-
hundert dem Verfall geweiht, es sank
zu einer Zerstreuung herab und büßte
mehr und mehr den künstlerischen
Charakter ein.
Soll man in dieser bedenklichen
Wandlung unbedingt den Einfluß der
Revolution erblicken ? Wir glauben
es nicht. Die Revolution hat der
Akademie der Musik und des Tanzes
nur sehr geringen Abbruch getan. Sie
hat lediglich die Titel der Ballette ge-
. ändert und die Namen der Interpreten
verschleiert, sonst hat sie sich keiner-
lei Eingriffe in das Gebiet der Cho-
reographie erlaubt. Das Ballett-
Ensemble der Großen Oper pflegte
sogar in den turbulentesten Tagen
aufzutreten. Es hat sicherlich nicht
unter der bösen Zeit zu leiden gehabt.
In den ersten Jahren des 19. Jahr-
hunderts finden wir in Blasis einen
erstklassigen Librettisten und zugleich
einen bemerkenswerten Theoretiker
des Kunsttanzes. Wir wissen übrigens,
daß die italienischen Ballettmeister
Salvatore Vigano und Gaetano Gioja
als Interpreten Gardel und Vestris
keineswegs nachstanden. Aber wir
wissen auch, daß es während vieler
Jahre nicht einen einzigen Musiker

gab, der imstande gewesen wäre, das von Lulli begonnene Werk weiterzuführen,
ebensowenig wie man einen Maler finden wird, der Bouchers Dekorationstalcnt
ersetzen könnte. Ähnlich verhielt es sich mit den Librettisten, es fehlte durchaus
an geeigneter, dichterischer Begabung. So erklärt sich die Stagnation, die inner-
halb der choreographischen Kunst während des 19. Jahrhunderts auffällig in die
Erscheinung tritt. Es war kein Stillstand, der dem Schicksal der heiteren Muse
unbedingt hätte verderblich werden können, es fehlte nur ein Meister, der würdig
genug gewesen wäre, den Ehrenplatz Beauchamps und Noverres einzunehmen und
die gänzlich veralteten Formen des Kunsttanzes zu reinigen.
Noch seien mir einige Worte vergönnt über Fanny Elßler, die Taglioni,
die Charlotte Grisi, die Carrito und die Rosatti, die Sterne am Kunsthimmel des
Kaiserreichs und der Restauration, die Favoritinnen unserer Urgroßeltern und
Großeltern, die mit dem Charm ihrer unnachahmlichen Tanzkunst und ihrer er-
staunlichen Geschicklichkeit zwei Generationen begeisterten, die in ihrem elfen-
artigen Dahinschweben den Gesetzen der Schwerkraft zu widersprechen schienen.
Jene sonderbare, wenn auch wenig inhaltsreiche Pantomime, in der sie wie toll
umhersprangen, um dann in eine ohnmachtartige Lethargie zu verfallen, ver-
schaffte ihnen die Bewunderung eines, Publikums, das der Grazie jener Jüngerinnen
Terpsichores, welche sich in so vielen verschiedenen Posen kundzugeben wußten,
mit höchster Begeisterung entgegen jubelte.
Die Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs erbte diese eigenartige Schwärmerei.
Die Zeitgenossen Napoleons III. lehnten in ihrer heiteren Sorglosigkeit und in ihrem
liebenswürdigen Frohsinn alles ab, was die Lebensfreude irgendwie zu gefährden
drohte; allem, was etwa geeignet war, nachhaltige seelische Erregungen zu ver-
ursachen, stand man von vornherein feindlich gegenüber. Es kam daher auch nicht
darauf an, das harmonische Zusammenwirken kleinlicher Zersplitterung zu opfern.
Sie ließ den ersten Darstellern alle nur erdenkliche Freiheit, um sich Geltung zu
verschaffen und ihre Reize verschwenderisch zur Schau zu stellen. Ganz nach
dem Belieben dieser Favoriten und Favoritinnen aufgebaut, sanken die Ballette
bald zu einem Kunstgenuß zweiter Klasse herab, und das Schicksal des Kunsttanzes
war ganz in die Flände einiger weniger Tänzer und Tänzerinnen gegeben, die es
wahllos nach ihrer und der Laune ihrer Anbeter modelten. Glücklicherweise traten
eines Tages einige neue Tendenzen in die Erscheinung; das 20. Jahrhundert
brachte eine Veredlung und Vollendung der choreographischen Kunst und hob
sie auf eine höhere, ästhetische Stufe.
Die Loie Füller und Isidora Duncan, jene beiden unvergleichlichen Künst-
lerinnen, brachten zu unserer größten Freude eine höchst persönliche und äußerst
charakteristische Note in den Kunsttanz, indem sie zum ersten Male das plastische
Element durch konzentrierte Wirkungen heraushoben. Die schöpferische Kraft eines
wunderbar entwickelten Instinkts gebar in ihnen eine außerordentliche Empfindung
für Rhythmus, und diese gesteigerte Sensibilität zeitigte Früchte einer wunder-
voll harmonischen Übereinstimmung
sowohl in seelischer als auch körper-
licher Beziehung, wodurch auch
eine enge Verbindung mit den
Ideen des Musikers und Librettisten
geschaffen wurde. Einen neuen Auf-
schwung erlebte die Tanzkunst mit
Fokine und Nijinsky sowie den
Tänzerinnen der Kaiserlich Russischen
Theater. Sophie Feodorowa; die
Tamar Karsaniva, die Ida Rubinstein,
die Anna Wassiliewa, jene aus-
gezeichneten Künstlerinnen erschie-
nen in ihrer Beweglichkeit, in der
meisterhaften Beherrschung der Glie-
der ihres Körpers zuweilen fast visio-
när und immateriell. Sie schwebten
elfengleich dahin und brachten im
Tanze nicht allein körperliche Be-
wegungen, sondern vielmehr seelische
Empfindungen extatisch zum Aus-
druck.
Damit ist gleichzeitig auch die
höchste Forderung des Kunsttanzes
erfüllt. Aus dem Gebet, aus der
Glaubensinnigkeit ist er geboren
worden, und aus dem Mystischen fand
er den Weg ins reale Leben. Mit
Nijinsky fand er dann seine höchste
Vollendung, der dichterische Begei-
sterung und fröhliche Lebendigkeit,
höchste Freiheit mit größter Körper-
disziplin in glücklichster Weise ver-
einigte. EinTanz dieserArt ist der un-
mittelbarste, der freieste und zugleich
liebenswürdigste Ausdruck des Tem-
peraments einer Nation, er ist das
charakteristische Zeichen einer Rasse.


Paul Seguin-Bertault: Erste Pose der Tänzerin. Aus dem Foyer der Pariser Oper.
 
Annotationen