Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI Heft:
24. Heft
DOI Artikel:
Dorret, M.: Ich lasse dich nicht, [3]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0723

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
302

MODERNE KUNST.

an das gut durchwärmte bequeme Beförderungsmittel seinen Plänen erst-
mals eine festere Form gegeben.
Und er meinte nun liebenswürdig und beinahe heiter: „Aber selbst-
verständlich. Wenn es deine Eltern wünschen.“
Er erwartete irgendeinen gerührten Dank. Statt dessen sagte sie, ohne
ihn dabei anzusehen, als fürchte sie, in seinen Mienen einen Spott oder ein
Unbehagen zu lesen, das sie jetzt in dieser Stunde nicht ertragen hätte:
„Ich habe eine Bitte. Die erste Heinrich. Und eine sehr große. Seit
wir hier leben, wünsche ich es mir, einmal in solch eine verschneite Sylvester-
nacht hinein, durch die engen alten Gassen zum Dom zu gehen. Wie ein
Märchen müßte das sein. Allein erlaubten’s die Eltern natürlich nie. Aber
jetzt, mit dir .... Ich bitte dich drum.“
Es war einfach lächerlich. Eine Kindertorheit, der man ein festes
Mannesnein entgegensetzte. Das fehlte noch. Daß man sich gleich alles dessen
begab, worum man den Sprung ins kalte Wasser getan. Statt bequem „auf
Jummi" denn in Gottes Namen den Familienrummel mitzumachen, auf
den schlecht gekehrten Gassen die neuen Lackschuhe zu ruinieren. Die so wenig
bezahlt waren wie die Dutzende unwahrscheinlich kleiner Frauenschuhe,
in deren Herstellung Herr Pötter, der einzige Schuhmacher dieses gott-
verlassenen Nestes, es allmählich zur wahren Meisterschaft gebracht. Wenn
diese kleinen weichen Schuhe nicht gewesen wären ? . . . . Wie hätte man’s
dann überhaupt hier wohl ausgehalten? .... Aber sie waren unbezahlt.
Und Harry Tennow sagte seiner Braut sehr verbindlich, daß er die
Erfüllung dieses ihres ersten Wunsches für etwas Selbstverständliches halte.
Nun war er allein in dem merkwürdigen Mädchenzimmer. Nach dem
ganz leisen glücklichen Dank, hatte das Mädchen ihm den kleinen Zigaretten-
kasten von alter köstlich getriebener Silberarbeit hingeschoben, die Kerze
im schweren Bronzeleuchter angesteckt. Nun machten sie sich alle für den
Kirchgang zurecht.
Er lag mit übereinandergeschlagencn Beinen in einem der tiefen Sessel
und sah dem Rauch der echten türkischen Zigarette nach, der sich im
goldenen Halbdämmer des Zimmers verlor. Ja .... nun saß man also in-
mitten von Kunstschätzen, die ein Vermögen repräsentierten, rauchte echte
Türken, die man ausnahmsweise nicht schuldig geblieben. Löschte mit einer
Handbewegung die Vergangenheit aus und ließ sich heute abend einem
p. p. Publikum als rechtmäßiger Schwiegersohn dieses Hauses vorstellen.
Und er malte sich nun alles sehr amüsiert aus: Da war die blonde, in die
Breite gegangene Frau des ebenfalls wohlgenährten Chefs der Dritten. Sie
wird das altmodische weiße Spitzenkleid tragen, das ihre Formen zu sehr
betont, und von dem sie jedermann seit Jahren erzählt, daß es von Worth
in Paris stammte. Als das Kleid neu war und ihr noch sehr gut saß ....
Na ja ... . Das waren wohl sechs Jahre seither.
Sie wird aufgeregt umherschwirren, um möglichst viele Einzelheiten
über die Verlobung zu sammeln. Denn natürlich ist es ihr sehr peinlich,
nicht eingeweiht zu sein. Das nahm ihr den Nimbus, nach dem sie mit an-
erkennenswerter Ausdauer, wähl- und skrupellos gestrebt: für eine der
Auserwählten des Gouvernements gehalten zu werden.
Und da war die zierliche junge Majorin Renke. Die wird ihre hellen
harten Augen wohl zu ihm hinschicken, nur zwei Sekunden lang. Und er
wird zurücktelegraphieren: o, sie brauchte keine Sorge zu haben. Er vergaß
die hübschen Dämmerstunden in ihrem roten Mahagonisalon nicht. Und
sie kommt dann wohl mit ihrem seltsamen, stereotypen Lächeln um die immer
ein wenig herabgezogenen Mundwinkel zu ihm, um ihm in ihrer kurzen be-
tonten Sprechweise, die jedem ihrer Worte eine gewisse Schärfe giebt,
„Glück“ zu wünschen.
Es kam vielleicht auch die schicke, überschlanke Frau von Biettau
in einem ihrer raffinierten, engen Gewänder zu ihm. Sie weiß sich wunder-
voll anzuziehen, und das schätzte er immer sehr. Die wird ihm wortlos
vielsagend die Hand schütteln. Sehr klug ist sie wohl nicht. Aber er hat
sich immer über ihre naive Hingabe gefreut. Und es hat ihm gefallen, daß
sie stets die elegante Weltdame war. Wenngleich oder gerade weil man
weiß, daß sie die Nächte durch näht, um aus ein paar hübschen Seidenfetzen,
die kleinen Wunderwerke von Toiletten erstehen zu lassen und dazwischen
noch die fadenscheinigen Kleidchen ihrer drei rachitischen Kinderchen
auszubessern.
Und da waren die Ehemänner, die Kameraden. Ein wenig erschreckt
die einen, weil sie wohl wußten, was ihn zu diesem Schritt getrieben, und

nun meinten, daß es ein Unglück geben müßte. Die anderen, weil sie so gar
nichts geahnt, und ihnen ein Gesprächsstoff entgangen war an den endlosen,
öden Kasinoabenden, an denen er nie teilgenommen. Brave, famose Kerls
alle. Und alle ein wenig in der Tinte. Du lieber Gott, Reichtümer besaß
nun mal keiner, und man war doch jung. Wollte sich mal austoben. Die große
Stadt war nahe. Man konnte doch nicht andauernd den grauen Alltags-
trott machen. Von der engen, primitiv möblierten Junggesellenbude, wie sie
die meisten bewohnten, zum Dienst, von da ins Kasino und wieder zurück
in die Leere der eigenen vier Wände. Gewiß, sie arbeiteten viel. Straffer,
unermüdlicher als in der Großstadt. Waren auf der Wacht, vorgeschoben
als erstes Bollwerk, wenn einmal die stürzenden Fluten dort drüben die
Dämme einreißen sollten. Die meisten hatten auch ein Ziel. Ein fernes,
heißumstrittenes. Ganz wenige wurden stumpf oder suchten ihr Heil
anderwärts.
Er freute sich darauf, bis er ihnen allen sein Heim öffnen konnte. Und
seine Hand. Das wollte er. Er wußte aus eigener Erfahrung, was es hieß,
um das bißchen Lebensfreude kämpfen. Nun hatte das alles für ihn ein
Ende. Es war doch gut so. Sehr gut.
Jemand legte die Hand auf seine Schulter:
„Ich komme, dir auf Wiedersehen zu sagen. Margret ist glücklich, daß
du ihren Wunsch erfüllst. Es ist wohl gegen die Regel, ein junges Paar allein
ziehen zu lassen, noch dazu bei Nacht. Aber Margret ist so selig, so glühend
vor Freude über diesen Sylvestergang. Da haben wohl kleinliche Bedenken
zu schweigen. Also denn — bis nachher.“
Der General drückte sehr kräftig die Hand des Jüngeren. Und dabei
sah er ihm wieder mit dem tiefernsten, gleichsam prüfenden Blick sekundenlang
in die Augen. Dann ging er rasch und straff aufgerichtet, ohne eine Antwort
abzuwarten.
Drüben verklang das dumpfe Klappern der Pferdehufe auf dem holprigen,
verschneiten Pflaster. Margret Kerstens ging mit raschen Schritten neben
dem Verlobten, in den ausgefahrenen Wagenspuren. Der Bürgersteig war
mit einem dichten Schneepolster bedeckt. Nur vor dem grauen, langgestreckten
Dienstgebäude war sauber gekehrt. Nun bogen sie von dem freien kleinen
Platz in das Gewirr der spärlich beleuchteten engen Gassen. Sie sprachen
nicht. Der Mann hatte den Kragen hochgeklappt, die Hände in die Taschen
des hellgrauen Mantels versenkt, den Helm tief in die Stirne gedrückt. Und
jedesmal, wenn aus dem ungewissen Halbdämmer da vor ihm eine weibliche
Gestalt auftaucht, zuckt er zusammen. Jedesmal kommt ihm dieselbe feige
Angst an: es möchte die eine feingliedrige Gestalt sein, das eine schöne
Gesicht mit den unruhvollen grauen Augen, das da aus Dämmerung und
Kälte vor ihm herauswüchse. Und jedesmal, wenn die Begegnende vorüber,
ist eine bittere, grenzenlose Enttäuschung in ihm, daß die feige Angst ver-
geblich gewesen. Er denkt gar nichts anderes mehr, seit er das Haus, das sein
zweites Elternhaus werden soll, verlassen hat.
Margret Kerstens geht stumm versunken neben ihm. Ja, nun hat sie
ihr Märchen: Die spitzgiebeligen, eng zusammengedrückten Häuser, auf
deren verschnörkeltem Mauerwerk der Schnee in seltsam grotesken Wülsten
und Linien liegt. Die schweren, altersschwarzen Eichentüren, die würdevoll
in den tiefen Mauernischen stehen wie treue Wächter, die anzeigen, daß sie
den Frieden des Hauses unter gar keinen Umständen stören lassen. Da und
dort blitzt ein blankgeputzter Messingtürklopfer im Licht der spärlichen
Laternen. Aus einem halbgeöffneten Fenster dringt der Geruch von warmem
Gewürzbrot und Punsch. Hinter weißen dünnen Gardinen brennt ein kleiner
Lichterbaum.
Lautlos auf der dichten Schneedecke gehen die wenigen Menschen an-
einander vorüber. Und Margret Kerstens ist’s, als müßten diese schemenhaft
Vorübergleitenden heute in den verschneiten Gassen umhergehen im weiten,
schwer samtnen Gewand des würdigen Ratsherrn, im starrenden Seidenrock
der Bürgersfrau, das kleidsame goldne Riegelhäubchen auf dem glatt-
gescheitelten Haar, das Brusttuch über dem bauschigen Miederärmel gefaltet.
Wie in einem Märchen. Versunken die Wirklichkeit. Und in all der
weißschimmernden Pracht zwei Menschen. Zwei, denen das Glück voraus-
schreitet, zwei, deren Herzen zusammenschlagen in einem starken wunder-
voll tönenden tiefen Gleichklang.
So wie eben jetzt die Glocken des Doms dort oben einsetzen, dessen
spitzer, herrlich ziselierter Turm weit über das enge Gewirr da unter ihm
in die bläuliche Nacht des Sylvesterhimmels ragt.
 
Annotationen