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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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24. Heft
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Dorret, M.: Ich lasse dich nicht, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0724

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MODERNE KUNST.

303

Mitten auf dem kleinen Platz, den die köstlichen Renaissancehäuschen
umgeben, wie behaglich schwatzende, wohlhabende Bürgersleute, an dem
Brunnen, den St. Georg schützt, Fuß und Lanze kühn auf dem Rücken des
grimmen Drachens stützend, mitten in diesem verträumten Stück Renaissance
bleibt Margret Kerstens stehen. Der ganze enge Platz ist voll von den hallenden,
rufenden Glockenklängen. Wie angefüllt von einer schweren und andachts-
vollen Schönheit. Margret Kerstens empfängt sie mit einem jubelnden, in-
brünstigen Verstehen. In ihr blühen tausend neue Leben auf, in einer Fülle,
die ihr beinahe den Atem nimmt. Und ihre Augen suchen die des Mannes.
Der fährt auf, als er ihren leisen Anruf hört. Inmitten von all dem
Tönen und Klingen ringsum steht er wie erstarrt. Als rissen die Klänge
mit stürzenden Händen an der schwachen Mauer, die er zwischen sich und
der Vergangenheit aufgebaut. Dieser Vergangenheit, die noch so grausam
Gegenwart ist. Alles in ihm ist in
Aufruhr. Es mag der jähe Rückschlag
der unerhörten Erregungen sein, die
der Tag ihm gebracht, es ist vielleicht
ein letztes Reißen der bis zum Äußer-
sten gespannten Nerven: als das Mäd-
chen seinen Namen ruft, ganz weich,
ganz voll von einer demütigen Liebe,
faßt er plötzlich ihr Handgelenk:
„Ich kann nicht mehr. Hörst du.
Und ich will auch nimmer. Du mußt
es doch einmal wissen. Ob heut oder
morgen, das ist ja gleichgültig. Gib
mich frei! Du mußt es. Du kannst
gar nicht anders. Ich habe dir nichts
von Liebe gesagt. Konnt’s gar nicht.
Denn ich bin von der anderen zu dir
gekommen .... Aus Verzweiflung ....
Weil ich nicht mehr aus noch ein
wußte .... Feig wurde ich mit einem
Male. Ehe ich zu deinem Vater ging
heute, hab ich ihr gesagt, was ich tun
will. Ich bracht’s vorher einfach nicht
fertig .... Sie hat mich gleich ver-
standen. Wie immer in diesen fünf
Jahren .... Aber ich kann ihre Augen
nicht vergessen, als sie sich heute früh
noch einmal umwandte. Und dann bin
ich zu dir gekommen. So bin ich ge-
kommen. Weil ich meinte, so etwas
lasse sich einfach auswischen in einem
neuen Leben, in dem diese elende Geld-
not ausgeschaltet ist. Aber das ist ja
alles Unsinn. Davon kommt man ein-
fach nicht los. Gib mich frei.“
Irgendwo brach mit furchtbarem
Dröhnen etwas zusammen. Oder waren es die Glocken, die zersprangen und
nun starr und kalt dort oben hingen ? Margret Kerstens sah sich um. Sie
faßte nach dem vereisten Brunnenrand. Die durchdringende Kälte tat ihr
wohl. Das Schwanken um sie her hörte auf. Sie rang nach einem Wort.
Aber es wurde nur ein dumpfer Laut. In den paar Sekunden drängte sich
ihr Leben zusammen. Und das seine. Dann hob sie den Kopf. Und indes
ihre Augen über den Mann hingingen, der den Helm in der Hand mühsam
atmend vor ihr stand, sagte sie ganz laut in die Stille der Winternacht
hinein:
„Nein. Jetzt nicht. So nicht. Ich bitte dich. Komm."
Wie unter einem fremden, unbegreiflichen Zwang blieb er neben ihr.
Sie hielt sich straff aufgerichtet, ging mit festen, raschen Schritten dem
kleinen Seitenportal des Doms zu. Wortlos schritt sie an ihm vorüber in
die festliche Helle der Kirche.
Die war schon ganz erfüllt von Menschen. In den einfachen dunkeln
Holzbänken saßen sie dicht gedrängt. Selbst in die breiten Mittelgänge,
rings um die Säulen des Schiffes hatte man Sitzgelegenheiten gestellt. Und
viele gingen noch suchend zwischen den engen Reihen umher.

An einer der Säulen fand Margret Kerstens noch einen Platz. Man
rückte bereitwillig zusammen, grüßte freundlich-respektvoll. Man kannte
sie und wunderte sich, daß das „Exzellenzensfräulein“ den Gruß nicht wie
sonst höflich erwiderte. Und man besprach es flüsternd, weshalb sie wohl
nicht da vorn unter der Kanzel, auf einer der ledergepolsterten Honoratioren-
bänke bei ihren Eltern sitze.
Margret Kerstens sah nicht. Sie dachte nicht. Um sie her waren
flimmernde, rötliche Schleier. Allmählich teilten die sich. Und aus ihnen
heraus wuchsen die mächtigen gotischen Säulen, nur tief unten vom gelb-
roten Schein der offenen Gaslichter umspielt, in die dämmernde Höhe hinein-
ragend. Empor, empor zu der prachtvollen Wölbung des Daches. Die lag
in Nacht. Aber drüben auf der tiefbraunen Eichenbrüstung der berühmten
Orgel gingen im Schein winzig wirkender Lämpchen festlich gekleidete
Menschen. Dort stellten sich die Mit-
glieder des Liederkranzes auf. Ihr Chor-
gesang bildete die Hauptanziehungs-
kraft des Abends für viele der Kirchen-
besucher. Es war so ziemlich das einzige
musikalische Ereignis des Städtchens.
Im bläulichen, mystischen Dämmer,
hinter seinem kunstvollen Eisengitter,
lag das herrliche alte Chorgestühl. Hoch
oben an seinem Kreuz hing der stille
Dulder und sah herunter auf die Mensch-
heit, die sich da drängte: mühselig und
beladen .... tief dankbar und erlöst,
heißes Weinen und seliges Erdenglück
hineinzutragen in den letzten Abend
des Jahres.
Margret Kerstens preßt die Hände
im Schoß zusammen. Sie sieht starr
gerade aus. Noch immer schieben sich
die Menschen durch den Mittelgang.
Nun stauen sie sich. Eine Lücke ent-
steht. Und dazwischen sieht das Mäd-
chen auf einmal den Kopf ihres Vaters.
Sehr aufrecht sitzt er da, ganz unbeweg-
lich. Den Ausdruck seines Gesichts
kann sie im unsicheren Licht nicht er-
kennen. Aber plötzlich ist ein wilder
Jammer in ihr. Sie hebt rasch den
kostbaren großen Muff an den Mund.
So hat niemand das verzweifelte Rufen
nach ihm gehört, dem sie heute das
Schwerste an tun muß. Es ist das erste,
was sie klar denkt: wie sehr der Vater
darunter leiden wird, daß seines Kindes
Bestes, Heiligstes beschmutzt und zer-
stört worden ist.
Mit einem Male ist der Dom erfüllt von rauschenden, brausenden Orgel-
tönen. Sie strömen über die lautlosen Menschen hin, reißen sie mit, tragen
sie empor. Hallend fallen ihre Stimmen ein.
Margret Kerstens sieht nur das feine, kluge Gesicht ihres Vaters. Hört
nichts als die paar Worte, die sie ihm nachher wird sagen müssen: er kommt
nicht mehr. Du mußt mich schon noch behalten, Vater ....
Ja, so wird sie es ihm sagen. Gleich das Allerbitterste vorweg nehmen.
Gleich ihm zeigen: wir bleiben ja nun beisammen, du und ich. Nicht dran
rühren. Es geht schon. Ich ertrag’s. Nur du bleib bei mir .... Ja, so
wird sie’s ihm sagen. Irgend jemand dort drüben in den Reihen der
Honoratioren lehnt sich bequemer zurecht. Nun sieht sie auch die
Mutter, halb abgewandt, im eifrigen Flüstergespräch mit der Frau des
Oberst. Die beugt sich sehr tief zu Ihrer Exzellenz herunter, die sie um
Haupteslänge überragt. Ein klein wenig ostentativ sieht es beinahe aus.
Margret Kerstens weiß, daß die Mutter jetzt — erregt und wichtig — das
tiefinnerste Erleben ihrer Tochter preisgibt. Aber es berührt das Mädchen
gar nicht. So als würde da jetzt etwas besprochen, was abseits ihres eigenen
Jammers liegt. [Schluß folgt.]
 
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