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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 7.1909

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Heft 8
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Worringer, W.: Die Pietà Rondanini
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https://doi.org/10.11588/diglit.4599#0372

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wird klein, wird irdisch. Hier wo das Unzuläng-
liche Ereignis werden will.

Nicht im Gespensterhaften des verhauenen
Steins, aus dem mühselig und beladen unfertige
verworrene Formen sich losquälen, nicht im Herz-
ergreifenden des Vorgangs liegt das Erschütternde,
nein, die Tragik dieser Piet.i spielt sich jenseits alles
Augeneindrucks ab. Sie offenbart sich in ihrer
ganzen Tragweite nur Dem, der ein Organ hat für
die letzten Probleme der Kunst, für den grossen
weltgeschichtlichen Kampf zwischen den zwei
Reichen der Kunst, die aufs tiefste verbunden sind
mit jenen beiden Reichen, die auch für alle Philo-
sophie und Weltanschauung entscheidend sind. Nie
starb ein Grosser, ohne vor Sonnenuntergang in
unaccentuierten, unverständlichen Lauten vom
dritten Reich geraunt zu haben. Hört Goethes
Chorus mysticus, hört Beethovens letzten Quartette,
lest Ibsens dunkle Beichte, seht Michelangelos Pietä.

War es immer nur Dieses, was sich begab, dass
ein Starker schwach wurde und am Kreuze nieder-
sank ; Dem seichten Europäer und Renaissanceerben,
dessen rationalistische Bürgerlichkeit nie mehr vor
ihrer Gottähnlichkeit bangt, mag es so scheinen.
Ihm ist der Kreis der Möglichkeiten eng gezogen
und seine Ablehnung alles Transscendenten ist
Selbsterhaltungstrieb. Er scheut zurück vor den
Grenzen, wo die Dinge doppelbödig und frag-
würdig werden und wo Erkenntnisse harren, die
sein bisschen selbstgewisses Europäertum demütigen
könnten. Und er hat ein Wort bereit, um alles
zitternde Tasten nach dem dritten Reich zu dis-
kreditieren. Er nennt es Nazarenertum. Er kann
nicht anders: er muss ein Zurück da sehen, wo ein
Drüberhinaus vorliegt. Und wer nicht mit ihm ist,
ist wider ihn.

Auch unsere Kunstgeschichte ist bürgerlich und
krankt an europäischer Befangenheit. Sie weiss nur
um das eine Reich, das Griechen und Römer und
ein vom Mittelalter befreites Europa schufen. Am
Organischen, am Lebensnahen und Natürlichen ist
ihr Kunstbegriff gebunden. Kein Auge hat sie
für die grossen, durch eine ungeheure Tradition
geweihten Werte, die mit der Renaissance, diesem
Sieg des Organischen, zu Grunde gingen. Kein
Ahnen spricht ihr von der Tragik, dass die Kunst,
die einst Ewigkeitszüge trug, mit der Renaissance
in den Kreis des Vergänglichen trat, dass sie, die
einst mit dem übermenschlichen Pathos abstrakter
lebensferner Werte gesprochen, sich nun mit dem
Erdenton organischer Harmonien zufrieden gab.

Denn das Abstrakte ist das grosse andere Reich.
Hier war Kunst nicht Schönheit, nicht Leben, war
sie nur Drang nach Ewigkeitswerten, Sehnsucht nach
dem Notwendigen. Hier war Kunst nur Wille zur
Erlösung; zur Erlösung aus der Verworrenheit und
Willkür der Erscheinungswelt. Aus der Vergäng-
lichkeit des Irdischen flüchtete sie zur Notwendig-
keit abstrakter Werte.

Die Renaissance war das Ende dieses Trans-
zendentalismus der Kunst; das neue psychisch wohl-
temperierte, aller Weltschauer entwöhnte Geschlecht
Europas gab sich ganz der Wonne hin, im Diesseits
zu leben und der Kunst die Wirklichkeit zu erobern.
Das Organ für die Unergründlichkeit der Er-
scheinungswelt verkümmerte. Die Kunst kehrte
wie einst in griechischen Zeiten in die Grenzen des
Menschlichen zurück, ward irdisch. Sie verarmte
an Ausdruckskraft, weil sie reicher an Menschlich-
keit wurde. Der Mensch war wieder das Maass aller
Dinge geworden und alle tragischen Möglichkeiten
waren Dem beschieden, der erkannte, dass dieses
Maass der Unergründlichkeit der Erscheinungswelt
gegenüber zu klein genommen war . . .

Hier liegt das tragische Verhängnis der Re-
naissancekunst, das mit Schicksalsnotwendigkeit
sich an Dem vollziehen musste, der sie ihrer Er-
füllung am nächsten brachte. Wer ihre Ausdrucks-
möglichkeiten am stärksten auslöste, ihre Dynamik
am gewaltigsten anspannte, der musste zuerst ihrer
Grenzen gewahr werden und an ihnen zerschellen.

Dies Prometidenlos verhängte das Fatum über
den Einen, der höher stieg als alle Anderen, über
Michelangelo. Es verdammte sein Schaffen dazu,
von Anbeginn an nichts anderes zu sein als ein
dumpfes Drängen gegen Grenzen, innerhalb derer
für sein transszendentes Wollen keine Heimat war.
So speicherten sich die von den Grenzen zurück-
geworfenen Kräfte nach innen zu auf und gaben
aller Form einen Spannungsinhalt, der quälend und
bedrückend wirkt wie das ohnmächtige Sichgebär-
den unerlöster Seelen. Die Titanidentragik ihres
Schöpfers verkörperte sich in jeder einzelnen Figur
von neuem und umschattete sie mit einer unaus-
sprechlichen Traurigkeit. Schon rein äusserlich
genommen enthüllt sich das Geheimnis michel-
angelesker Form nur Dem, der die unsichtbaren
kubischen Grenzen fühlt, innerhalb derer sie ein
Maximum von Bewegung zu erreichen sucht und
an denen all ihr Leben und ihr Ausdruck gebunden
ist. Die Schwellung des einzelnen Muskels, mochte
sie auch anwachsen bis zur äussersten terribilita,

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