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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Riemann, Hugo: Gignómvnon und Geyovos beim Musikhören: ein aristoxenischer Beitrag zur modernen Musikästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0524

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5Ί8

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Hugo Riemann:
Γιγνόμβνον und Γeyovos beim Musikhören
Ein aristoxenischer Beitrag zur modernen Musikästhetik1)
Der größte Musiktheoretiker des Altertums, des Aristoteles berühmter
Schüler Aristoxenos von Tarent (geboren 354 v. Chr.), hat bereits mit
bewundernswürdiger Schärfe die grundlegenden psychologischen Tatsachen
des Musikhörens erkannt und definiert. Die neuere Ästhetik hat aber lange
Zeit gebraucht, seine Begriffsbestimmungen durch allmähliches Vordringen
zu denselben Erkenntnissen zu verstehen und vollinhaltlich zu bestätigen.
Aristoxenos hat bereits klipp und klar ausgesprochen (Rhythmik 272), daß
der Rhythmus etwas rein Formales ist, das nur durch einen Inhalt,
ein Rhythmizomenon, Wesenheit und ästhetischen Wert erlangt; diese feine
Definition hat noch in neuester Zeit zur Korrektur von Versuchen dienen
können, das Wesen des Rhythmus in dynamischen Unterscheidungen
zu suchen. Ebenso hat Aristoxenos bestimmt ausgesprochen (Harmonik,
§ 27), daß die Phantasie des Hörenden Folgen von Tönen verschiedener
Höhe als Fortbewegung von einer Tonhöhe zur anderen auf faßt, d. h.
die zwischen beiden liegende Strecke durchläuft, also die diskrete
Tonfolge (τό έξης) im Sinne einer kontinuierlichen Veränderung der Ton-
höhe (τό συνβχέε) versteht. Den tiefen Sinn dieser bedeutsamen Unter-
scheidung hat noch die Marquardsche Ausgabe und Übersetzung (1868) der
Harmonik des Aristoxenos durchaus nicht begriffen; erst durch Lotzes und
Fechners Hinlenkung des Interesses auf die elementarenFaktoren
der Kunstwirkung ist allmählich verständlich geworden, was da Aristoxenos
eigentlich gemeint hat.
Von noch größerer Tragweite für die Fundamentierung der Musik-
ästhetik ist aber wohl § 31 der Harmonik, die Unterscheidung des γιγνόμβνον
und des yeyovos bei der Auffassung von Tonbewegungen, der Ausspruch,
daß es für das Zustandekommen des Verständnisses einer Melodie außer
der Wahrnehmung des gerade Erklingenden (alaSaves^ai τό γιγνόμ€νον) der
Festhaltung des vorher Erklungenen in der Erinnerung (μνημονβΰβιν τό yeyo-
vos) bedarf. Diese Definition gibt tatsächlich nicht nur den Schlüssel für das
Problem der musikalischen Formgebung, sondern macht

*) Aus äußeren Gründen konnte dieser Vortrag beim Kongresse nicht
gehalten werden.
 
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