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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 14 (2. Aprilheft 1904)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0117

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letzendes liegen: darf einer öffcntlich
ausbieten, woran er als bewußte,
als Willenspersönlichkeit gar keinen
Anteil hat? Allerdings schlägt das
Verletzende hier schon mehr ins naiv
Lächerliche um, wenn das Publikum
der Madeleine gar dafür zuklatscht,
daß sie so schön — unter der Hyp-
nose geträumt hat, und wenn man
sieht, wie sie sich wieder beim Publi-
kum persönlich dafür bedankt, daß
das, was sie unbewußt geträumt,
aüch den Beifall des Publikums ge-
funden hat.

Freilich, die Naturkraft in der
Madeleine — wenn ich niich dieses
Ausdrucks bedisnen darf, um den
Gegensatz zu dem bewußt persönlichen
Willenskönnen in ihr zu bezeichnen
— dieses in der Hypnose sich regende
Naturvermögeu des Tanzes und des
Gebärdenspiels ist ebensowohl von
ciner entzückenden wie von einer
mächtigen Ausdrucksfähigkeit. Und
da es sich unter dem unmittelüaren
Einflusse und der Leitung von Kunst,
Musik, Gesang und poetischer Sug-
gestion betätigt, so erhält auch ihre
ganze Leistung etwas durchaus Kunst-
mäßiges, wie auch schon Gumppen-
berg hervorhob. Nur das eigeniüm-
lich verzerrte Gesicht mit dcm Aus-
druck irren Entrücktseins, der ge-
legentlich zu einer stumpfen Grimasse
entartet, der leichte Krampf, der
ab und zu durch die Arme in die
F-inger läuft und cin Schlafmurmeln
hin und wieder oder das Wimmern
beim Chopinscheu Totcnmarsch z. B.,
erinnern daran, daß wir eigenllich
kein Handeln, sondern ein Erlei-
den vor uns sehn. Aber auch diese
leise Erinnerung wird für mich auf
weiteu Streckcn verdrängt — das
muß ich bei all mcinen Einwändcn
bekennen — durch die hinreißende
Unmittelbarkeit, mit der das Ge-
fühl, von der Musik in ihr auge-
schlagen, die Töne in Bewegungen
und Gebärden umsetzt, mag dies

Gefühl auch hin und wieder in
unverhältnismäßig starker Weise auf
leise Reize schon reagieren. Wie
sich die Schlafstarre selig aufhorchend
beim ersten leisen Erklingen bis in
die Fußspitzen belebt, wie sie den
Töneu uachtastend mit lcicht zögern-
den Zweifelschritten einhcrgeht, bis
es sie faßt uud dahinschwingt —
wie sie die Melodie „fängt", mit
den Händen sozusagen herunterholt
aus den Lüften, wie einen Wunder-
schmettcrling zwischen den Finger-
spitzen verzückten Auges anstarrt —
wie sie bis ins Jnnerste zusammen-
znckt, da sie das Aufdröhnen des
Trauermarsches „trifft", wie sie sich
aufbäumt, das ganze Antlitz leid-
zerwühlt, zu pathetisch - gewaltigcr
Schmerzenshöhe, von wuchtigem Weh
erschüttert rhythmisch eiuherschwankt
— das alles ist so voll von blitz-
artig erleuchtenden Eingeüungen, so
voll von wahrhaftigem Erleben, so
voll von ergreifender Naturpoesie,
wic ich es nie auch nur in annühern-
der Stärke von Tanz- oder Gebärden-
künstlern in ihrer höhercn Bewußt-
seinssphäre darstellen sah. Atler-
dings, auch darin muß ich Gumppen-
berg rechtgeben, sobald sich das ge-
sprochene Wort in der Art zum Ton
gesellt, daß eiue bestimmtc Ver-
geistigung statt bloß elementarer Be-
seelung verlangt wird, wirlt sie im
ganzeu weit weniger ijberzeugend.
Da stellt sich's bei ihr ein wie ein
Hinanstreben zu dunkel geahnteu
Höhen, die zu erklimmcu ihr vcr-
sagt ist, und ihr Pathos begiunt
stellenweise au das Pathos von Kin-
dern zu erinnern, die mit „Erwach-
senengefühlen" spielen. Auf das ge-
sprochene Wort alleiu reagiert sic
dann überhaupt bei aller Lebhaftig-
keit, ja Exaltiertheit, viel wcniger
treffend. Und daß sie gar den Jn-
halt vou Fabeln wie „der Fuchs
und der Rabe" in Gebärden „träu-
mend" wiedergeben muß, ist wohl

-o

Kunstwart
 
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