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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

DOI issue:
Heft 22 (2. Augustheft 1904)
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Fricke, Richard: "Bearbeitungen"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0511

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von Lebert, Mozarts Sonaten von Lebert, Kohler und Schmidt u. a., Schuberts
und Wcbers Kompositionen von Liszt, Chopin-Ausgaben von Mikuli, Scholz,
Kullak, Klindworth usw. Man wird auch wohl nicht fehlgehen in der An-
nahme, daß nicht nur in der Klavier-Literatur sondern auch in der Literatur
der übrigen Jnstrumente solche Zustände herrschen; ich selbst kann mir kein
Urteil darüber erlauben. Aber wenn selbst meine Annahme nicht ganz zu-
träfe, so glaube ich doch meine Ausführungen an einen größeren Leserkreis
richten zn dürfen, da ja das Klavier im öffentlichen Musizicren wie in der
Hausmusik das Uebergewicht hat.

Bleiben wir einmal bei Beethovens Klavicr-Sonaten als dem wich-
tigsten Bestandteile der Klavier-Literatur. Bei oberflächlicher Ueberlegung
könnte man mir einwenden, weshalb eine der so beliebten „instruktiven"
vdcr „akademischen" Ausgaben nicht dieselben Dienste tun soll wie die teuere
Urtext-Ausgabe; die zahlreichen Freunde der Lebert-Bülow-Bearbeitungen
werden einen solchen Einwand sogar mit großer Entrüstung aussprechen.
Und doch ist ein ganz gewaltiger Unterschied vorhanden, der für die modernen
Bcstrebnngen, die auch im Kunstwart immer wieder zum Ausdruck gebracht
werdcn, die größte Bedeutung hat. Die Tätigkeit der Herren Bcarbeiter
und Herausgebcr besteht zumeist darin, F-ingersatz und Pedalbezeichnung
hinzuzuschrciben, Acnderungen vorzunchmen, die durch die Ausdehnung der
Klaviatur seit Beethovens Zeit möglich geworden sind, Triller und anderc
Verzicrungcn in Fußnoten auszuführen, die Bezeichnungen für Artikulation
und Phrasiernng zu „verbesscrn" und schließlich Vortragsbezeichnungen über
Vortragsbezeichnungen hinzuzufügen. Der hinzugefügte Fingersatz wie die
Pedalbczeichnung sind ungefährlich, man kann sie nach Belieben außer acht
lassen; alles andere aber ist vom llcbel! Man sollte doch Bcethoven und
anderen Komponisten aus früherer Zeit, die einiges geleistet haben, zutrauen,
daß sie die Artikulations- und Vortragsbezeichnungen gcnügend beherrschten,
nm das zum Ausdruck zu bringen, was sie für dcn Vortrag ihrer Werke
für notwendig hielten. Jn Wahrheit aber genügt das, was wir in dicser
Beziehung von der Hand der Schöpfer selbst besitzen, nicht nur vollkommen
für daS richtige Erfassen ihrer Schöpfungen, nein, es ist dazn nötig! Daran
ausschließlich haben wir uns zu halten! Was würde wohl heutigen
Tages cin Richard Strauß sagen, wenn jemand sich unterfangen wollte,
sein ox. 9 für eine „instruktive" Ausgabe zu „bearbeitcn"! Jch habe ver-
schiedentlich beobachten können, wie kläglich der daran ist, dem scin Klavicr-
lehrer von Anfang an „bearbeitcte" Ausgaben vorgelegt hat: Licgt ihm
einmal eine nicht bearbeitete Ausgabe vor, so weiß cr nicht cin noch aus,
wenn nicht jedcs Trillerchen und jedc sonstige Derziernng am untercn Rand
der Seite fcin säuberlich ausgeführt ist, nnd der Mangcl der gewohntcn,
zn „scheußlichen Klumpen geballtcn" Vortragsbezeichnungen sctzt ihn in die
größte Verlcgcnheit. Statt der vermeintlichen guten Wirkung der „instruk-
tiven" Bcarbcitungcn, die ja dcn Spieler gcwiß auch geistig und technisch
üben sollcn, ist gerade einc gegenteilige zu erkcnnen: Sobald das straff
gczogcnc Gängclband fehlt, tritt eine bemitleidenswerte Haltlosigkeit und
Unsichcrhcit ein, statt Pietätvollen, aber auf die eigene musikalische Veran-
lagung gcstütztcn Nachempfindens cin ängstliches Anklammcrn an frcmde
Zntaten. Und wie mag erst einem so verzogenen Spieler znmutc scin, wenn
ihm schließlich einmal zum Bewußtsein kommt, daß die herrlichen Werke
unserer klassischcn Meister nicht nur Lehrstoff für die Klavierstunde, sondern

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