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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 22 (2. Augustheft 1904)
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Fricke, Richard: "Bearbeitungen"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0512

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Begleiter fürs Leben sind, Werke, zu denen man nicht greifen soll, um zu
„üben", sondern um sich darein zu versenken so tief wie nur möglich! Robert
Schumann sagt einmal in seinen musikalischen Haus- und Lebensregeln:
„Betrachte es als etwas Abscheuliches, in Stücken guter Tonsetzer etwas zu
ändern!" Das gilt — wenn auch nicht buchstäblich — auch hinsichtlich
der „instruktiven" Bearbeitungen. Allerdings, eine Urtext-Ausgabe allein
tut's freilich nicht, von außerordentlich Begabten oder gar „erblich Be-
lasteten" abgesehen. Die heute vou den meisten Musiklehrern noch immer
befolgte Art der Unterweisung über das Wesen der absoluten Musik oder —
richtiger gesagt — der Mangel einer solchen Unterweisung trägt die Schuld
daran. Dem heutigen Stande der Lehre von der Phrasierung, Dynamik
und Agogik, wie sie von Hugo Riemann vertreten wird, müßte im Unter-
richte gebührend Rcchnung getragen werden. Hat der Spieler erst einsehcn
gelernt, daß es Musik ohne Ausdruck selbst bei völlig fehlenden Vortrags-
bezeichnungeu überhaupt nicht gibt, daß alle die erösoöuäo, äimiuuouäo,
siriu^ouäo und rituräuuäo, die die Herren Bearbeiter hinzufügen zu müssen
glauben, sich mit zwingender Notwcndigkeit aus dcr Komposition selbst
ergeben, so wird er das Verwerfliche der „Bearbeitnngen" erkcnnen und
empfinden, wie gut die alten Meister daran taten, ihre Werke nur sparsam
mit Vortragsbezeichnungen auszustatten, um die eigene Tätigkeit dcs Nach-
schaffenden nicht zu sehr zu beengen. Ja, er wird sogar finden, daß selbst
von den authentischcn Vortragsbezeichnungen vicle entbehrlich sind, daß in
den meisten Fällen eine Bezeichnung der Hauptstärkegrade und dessen gcuügte,
was eine Ausnahme vou der Regel bildet oder sich nicht theoretisch festlegcn
läßt. Die Beschäftigung mit der modernen Phrasierungslehre wird also den
Erfolg haben, daß der Spieler das in den totcn Notenzeichen im Verbor-
genen pulsierende Leben fühlen und dessen notwendiges Vorhandcnsein in
allen Phasen der Entwicklung erkenncn lernt, während ihn die bloßen trockencn
Hinweise in den „instruktiven" Ausgaben, die er einfach sklavisch zu befolgen
hat, im Unklaren darüber lassen. Allerdings muß man bei Benutzung von
Urtext-Ausgaben wissen, daß cs — leider bis zum heutigcn Tage — die
Komponisten mit der Bezcichnung der Artikulation nicht allzu gcnau ge-
nommcn haben, wenn sie überhaupt eine Bezeichnung dafür anwandtcn.
Besonders der weit verbreitete Jrrtum, daß mit dem Ende cines Isxuto-
Bogens auch ein Motiv oder eine Phrasc zu Eude sei und der letzte Ton
an solcher Stelle abgekürzt werden müsse, verdiente so schncll und gründlich
wie möglich ausgerottet zu werden. Auch die bekannte Regel, nach der
von zwei gleichwertigen, durch einen Bogcn verbundenen Notcn die erste
zu betoneu und die zweite um die Hülfte des Wertes zu kürzen sei, !ist
durchaus nicht immer anwendbar und brancht daher stets cin Köruchen
Salzes. Jn zweiselhaften Fällen dicser Art ist es weitaus richtiger, sich von
seinem durch gesunde Schulung geübten Gefühle leiten zu lassen als vom
Buchstaben der Regel. Die unzähligen Attcntate, die infolge der ungeuaucn
Artikulativnsbezcichnung auf viele schöne Kompositionen ausgeübt werdeu,
sollten für unsere heutigen Komponisten eine Warnung scin und dahin
führen, daß entweder auf jede Artikulationsbezeichnung verzichtet oder aber
nur eine genaue, jeden Zweifel ausschlicßende Bczeichnung angewandt wird,
was sehr leicht zu erreichen wäre (ok. „Elfcnklage" i. d. 5. Folge d. „Bunten
Bühne").

Auf Grund dieser Ausführungen behaupte ich also, daß die Ausgaben

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