Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1921)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst; Nötzel, Karl; Weber, Leopold: Zum Gedenktage an Dostojewskij
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0104

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Aber man wird nun doch auch in den geistigen Menschen dieser späteren
Zeit gewisse verwandte Züge finden, die mit denen der großen Literatur
übereinstimmen: eine gewisse Maßlosigkeit und Abenteuerlichkeit, Ver--
schwommenheit und Äberschärfe zugleich, einen scharfen Iknterschied gegen
westliche, vor allem deutsche Exaktheit und Konsequenz, Gründlichkeit und
realistische Äberlegung. Es ist das doch schwerlich bloß anf Rechnnng des
Slawentums, der endlosen Ebene und der Dünnheit der intellektuellen
Schicht zu setzen. Da muß noch anderes mit im Spiele sein. Melleicht
weisen hier einige Bcmerkungen von Alex. Herzen denWeg, die er in seinem
sehr interessanten Memoiren macht. Lr weist darauf hin, daß die Träger der
russischen Literatur und des russischen Geistes fast alle dem Landadel entstam-
men, der von dem Petersburger Hof-, Beamten- und Militäradel streng
geschieden ist. Daher die Sorglosigkeit und Hemmungslosigkeit, die Freude
an Spiel, Trunk und Abenteuer, daher die Abneigung gegen alles
Bürgerliche und Kleinbürgerliche, gegen Pedanterien und Konseqnenz,
daher aber auch die Unbildung und die Unsystematik, daher die Non-
chalance gegenüber allem Realen uno mühselig Wissenschaftlichen. Die
Freiheit und Maßlosigkeit, die Arbeitsungewohnheit und Abwechslungs-
lust, die Volksvertrautheit und exotische Abenteurerlust kleiner Seigneurs
wäre demnach das letzte Geheimnis. Der Haupttypus wäre etwa der
alte Karamasow, und von solchen Eltern kämen dann im glücklichen
Falle Söhne, wie die von Dostojewskij geschilderten, von denen Dimitri
jedenfalls noch am meisten typisch ist, Iwan den Äbergang zu den Lite-
raten andeutet und Alyoschat die Schöpfung einer religiösen Romantik uud
daueben sich entladenden Sentimentalität. Herzen kommt auf diesen
aristokratischen Typus, seine mangelhafte Erziehung und Bildung immer
wieder zurück. Im Grunde fühlt er sich selber doch immer wieder erst
in solchem Kreise wohl, wie man aus den Memoiren der Malvida von
Meysenbug sehen mag. Nnd wenn solche Leute Revolutionäre, Libe-
rale und Sozialisten werden, so bleibt es doch immer ein bißchen unver-
bindliches Spiel, gerade so wie umgekehrt auch das Slawophilentnm.

Damit stimmt überein, daß der stärkste Lindruck dieser Literatur auf
uns der einer ganz anderen Gesellschaftssitte ist, als sie bei uns im Westen
eine festere Klassenschichtung und eine systematischere Bildung hervorge-
bracht hat. Diese Leute bleiben vornehme, reiche, oder auch nur bevor-
zugte Leute; sie schlagen sich aber mit den übrigen auf einem Fnße von
Vertrautheit und gelegentlich Grobheit herum, der bet uns unmöglich
wäre. Nichts hat Konsequenzen. Wird es zu arg, so bittet man sich um
Verzeihuug, wie denn alle beständig um Verzeihung bitten und jeder
alles Schlimmste bei sich für ebenso möglich hält als beim andern. Das
mag vielleicht mit dem starken geistigen Einfluß des Mönchtums und
der Mönchssitte zu tun haben und erscheint dann dem dessen ungewohnten
Abendländer leicht als religiös. Es ist aber in Wahrheit doch mehr Sitte
und ein „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich" ohne erhebliche praktische
Folgen als etwa überraschende Freisprüche bei Schwurgerichten. In sol-
cher Gesellschaft wird Vertrautheit mit allen Ständen gewonnen und das
abenteuernde Ausleben in provinzialer Kleinwelt nicht gehemmt. Ans
solcher Gesellschaft heraus und für solche Gesellschaft ist jene Literatur
von meist armen Mitgliedern des Landadels geschrieben, die in diesen
Verhältnissen, sofern sie feinere Geister sind, für nichts Interesse haben als
für Psychologie und aufregende Geschichten, daneben sich grundsätzlich

77
 
Annotationen