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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 2 (Novemberheft 1921)
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Troeltsch, Ernst: Auf dem Weg zur neuen Mitte: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0116

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lang, ist neben allen übrigen wichtigen lirsachen doch die tzauptursache, daß
nicht wilde Horden den Staat in Trümmer schlugen. Nur in den Links-
und Rechts-Bolschewisten sind Reste der Anarchie und der Armee-Zer-
setzung übrig geblieben, die das sind, was in Rußland die Hauptmasse war.
Daß aber dieses ungeheure Werk gelang, ist das Werk einer Vereinigung
von Ebert, Hindenburg, Scheuch und Gröner, die sich damit ein unsterb-
liches Verdienst erworben haben. Das heißt aber wieder nichts anderes als
die damals mögliche und geforderte Politik der Mitte. Dann kam die Zeit
des Kampfes mit dem Spartakismus und der Lntscheidung der Sozialdemo-
kratie für eine legale demokratische Ordnung der Angelegenheiten mit
Hilfe der auch von den anderen Seiten geforderten verfassunggeben-
den Nationalversammlung, wo dann die Majorität des deutschen
Volkes entscheiden sollte. Inzwischen führten die sozialistischen Staats-
lenker, vor allem Noske, unterstützt von Seeckt, den Kampf gegen den
Spartakismus mit Hilfe von Offizieren der alten Armee und von Stu-
denten, weil die Arbeiter in diese Ordnungstruppen nicht eintreten wollten.
Ls war wieder eine von der Lage erzwungene Vereinigung cheterogener Ele-
mente, durch die unter harten, schon fast vergessenen schwersten Kämpfen die
Ordnung geschaffen wurde und wobei dann infolgedessen oft die Ordnung
in den weißen Schrecken ausartete. Das war eine für die Sozialistenführer
außerordentlich schwierige und peinliche Politik, aber es war auch das eine
Politik der Mitte, die dann ja auch mit der Nationalversammlung eine
offizielle Koalitionspolitik der Mitte einleitete. Diese Mitte ist dann freilich
nicht genügend gestützt gewesen. Vor allem die demokratische Partei war
in dieser Koalition zu schwach, da die große Masse der alten Schichten
außerhalb dieser Partei ihren Interessen besser zu dienen glaubte. Zu dem,
was eine Politik der Mitte wirklich erfordert hätte, zu einer großen
liberalen Partei, die mit der Republik ihren Frieden machte und inner-
halb ihrer, nicht gegen sie sich durchsetzte, kam es nicht. Die Folge war
der Ansturm gegen die Koajitionspolitik, wobei rechts und links sich bewußt
und unbewußt unterstützte, der Kapp-Putsch und die ihn fortsetzenden Neu-
wahlen, bei denen die demokratische Partei dezimiert wurde. Seitdem
regieren sehr künstliche und unsichere Majoritäten. Das Kabinett Wirth
hält sich eigentlich nur durch seine Nnentbehrlichkeit für die auswärtige
Politik und für die Lösung des oberschlesischen Problems, bedarf aber
gerade dafür einer stärkeren Stützung und sicheren Dauer. Solche Dinge
werden bei uns sehr langsam eingesehen und man freut sich zunächst bloß
über die Verlegenheiten der verhaßten Regierung. Kundige sahen die
furchtbaren Folgen dieses Zustandes sofort ein. Den breiteren Massen
und den Parteien haben erst die Sorgen der oberschlesischen Politik
und die Reparationsforderungen, schließlich die Ermordung Lrzbergers
die Augen geöffnet.

Die erste Folge davon war der Verlauf des sozialdemokratischen Partei-
tages in Görlitz. Nur Kinder können glauben, daß das von selbst und durch
reine Einsicht so gekommen sei. Ihm muß eine stille, äußerst intensive und
besonnene Arbeit in der Partei vorangegangen sein. Es ist ja ein völliger
und tief begründeter politischer Frontwechsel. Die Sozialdemokratie bejaht
nunmehr grundsätzlich den Staat, den sie bisher theoretisch verneinte. Sie
empfindet sich als Partei im Staat und nicht gegen den Staat und ist bereit,
diejenigen Koalitionen einzugehen, die für seine Erhaltung notwendig sind.
Dafür will sie nun freilich eben diesen Staat nach Möglichkeit der Ver-

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